Gerd Buskamp

Erle

Das Kommunionkind vor der Haustür des Bauern Oesing

Erinnerungen unter der Femeiche

Kindheitsgeschichten

Meinem Patenkind

Ricarda Hoffmann

zur Feier
der Erstkommunion
gewidmet.

Sankt Augustin, den 30. April 2000


(c) 2000
Alle Rechte liegen beim Verfasser
Gerd Buskamp
53 225 Bonn, Rheinaustrasse 96
Die Veröffentlichung an dieser Stelle auf
meiner Homepage www.KLEERBAUM.de
erfolgt mit freundlicher Genehmigung von
Herrn Gerd Buskamp.




Inhalt

Eine Reise zu den Erinnerungen

Erste Schritte

Kriegsboten

Die Einschulung

Der „Fallschirmsprung“

Kinder-Land-Verschickung

Das Münsterland

Erinnerungen unter der Femeiche

Die zweite Einschulung

Ungebundenes Leben

Meine Erstkommunion

Frontverläufe

Schule und Jugend

Abschied von den Erinnerungen

Das Erler Heimatlied









Eine Reise zu den Erinnerungen

Ein herrlich klarer und frischer Frühlingsmorgen verspricht einen wunderbaren Tag. Noch kämpfen die Sonnenstrahlen gegen letzte Dunstschleier der kühlen Nacht, die wie zarte Wattebäuschchen in den Niederungen der Wiesen schwe­ben. Der Motor des Wagens brummt eintönig vor sich hin während ich auf der Autobahn A3 in Richtung Norden fah­re. In mir ist eine gespannte Erwartung, denn der Anlass zu dieser Fahrt ist gerade nicht alltäglich.

In den letzten Wochen und Monaten kreisten meine Gedan­ken oft um Kindheitserinnerungen, ohne daß ich einen kon­kreten Grund dafür hätte nennen können. Erstaunlich dabei war, wieviele Dinge aus den Tiefen meines Gedächtnisses wieder Gestalt annahmen. Kleine, oft belanglose Begeben­heiten, auch Namen, Häuser, Straßen, kleine und große Or­te sowie wunderschöne grüne Landschaften, die in der Fer­ne der Kindheit eine Rolle gespielt haben, wurden vor mei­nem geistigen Auge wieder lebendig. Und das, obwohl dar­über fast sechzig Jahre vergangen sind.

Und von Tag zu Tag mehr wuchs in mir der Wunsch, die Or­te meiner Kindheit wieder einmal aufzusuchen. Zeit hatte ich ja zur Genüge und der Weg war auch nicht allzuweit. Al­so machte ich mich kurzentschlossen auf den Weg, auf den Weg von den Ufern des Rheines und meiner zweiten Heimat Bonn in Richtung zu den Stätten meiner Kindheit.

Nun bin ich schon seit etwa einer Stunde unterwegs. Links und rechts neben der Autobahn breitet sich schon das nörd­liche Ruhrgebiet aus. Eine nüchterne, dichtbesiedelte Land­schaft, die von vielen Fabrikanlagen mit hohen Schornstei­nen, riesigen Kühltürmen mit in den Himmel aufsteigenden Dampfwolken und hohen, dunklen Abraumhalden der ehe­maligen Kohlenzechen bedeckt ist. Einige dieser Halden ha­ben einen dürftigen Bewuchs von Gräsern, Sträuchern und Bäumen, so daß sie wie kleine natürliche Berge aussehen.

Ich habe nun den Nordrand des Ruhrgebietes erreicht. Die Enge der Industriestädte geht in eine offenere Landschaft über. Felder, Wiesen und kleine Wälder, zwischen denen sich Siedlungen breiten, säumen nun die Autobahn A2, auf die ich bei Oberhausen gewechselt bin. Bald schon wird auf den Autobahnschildern meine Geburts- und Heimatstadt Gladbeck angekündigt. Die Stadt war früher von Schwerin­dustrie und einer großen Zahl von Kohlenzechen geprägt. Heute gibt es das alles kaum mehr. Die Zechen wurden be­reits in den 60er Jahren wegen mangelnder Wirtschaftlich­keit geschlossen und ebenso auch bestimmte Bereiche der Stahlindustrie, die diese Zechen mit ihren Produkten belie­fert haben. Nun ist die Stadt sehr viel grüner geworden. Auch das schmutzig-graue Aussehen der Häuser und die mit Ruß- und Staubpartikeln angereicherte Luft gehört der Ver­gangenheit an. Es riecht nicht mehr so penetrant nach fau­ligen Abwässern, auch nicht mehr nach den schwefeligen Abgasen der Kokereien und Hochöfen. Ich nehme diese Ver­änderungen in Erinnerung an die früher dunstgetrübten grauen Himmel über dem Ruhrgebiet heute mit besonderer Freude wahr, zumal mir die frische Helle des Frühlingstages und auch die Erwartung mein Herz erwärmen.

Ich fahre nun von der Autobahn A 2 ab und bewege mich im langsamen Tempo durch die alten vertrauten Ortsteile und Straßen meiner Heimatstadt. Vieles ist durch Abriß und Bebauung verändert. Doch manches hat die Zeiten über­dauert, und ich nehme das erfreut wahr. Nun schlage ich den Weg zur Moltkestraße ein, an der mein Geburtshaus liegt. Das kenne ich jedoch nur aus den Beschreibungen meiner Eltern, denn schon zwei Jahre nach meiner Geburt zogen wir in den Norden der Stadt in ein Siedlungshaus um. Nach diesen Beschreibungen sollte es - soweit ich mich er­innere - das dritte oder vierte Haus im oberen Teil der Stra­ße sein. Doch ich muß feststellen, daß gerade in diesem Be­reich der Straße einige der Häuser in der gleichförmig ge­stalteten Häuserzeile der ehemaligen Zechenkolonie abgerissen worden sind. Und ich vermute, daß auch mein Ge­burtshaus dabei war. Über diesen wenig erfreulichen Beginn meiner „Reise zu den Erinnerungen" bin ich zunächst ent­täuscht, doch tröste ich mich mit dem Gedanken, daß es bei dem gleichartigen Aussehen aller Häuser dieses Straßenzu­ges nicht so sehr darauf ankommt, ein bestimmtes Haus als sein Geburtshaus zu erkennen, zumal ich ja auch keine ei­genen Erinnerungen damit verbinde.

Fest steht jedenfalls, daß ich hier in dieser Straße, vielleicht gerade dort hinter den braunen Ziegelmauern jenes Hauses vor nunmehr 64 Jahren auf diese Welt gekommen bin. Der Kalender schrieb damals den 29. September 1935. Es war ein Sonntagvormittag und - wie mein Vater immer wieder mit Stolz zu berichten wußte - zum Zeitpunkt meiner Ge­burt läuteten die Glocken der nahegelegenen Kirche. Es wa­ren die Glocken von „Sankt Lamberti", der Hauptkirche mei­ner Heimatstadt Gladbeck, zu deren Pfarrbereich auch die Moltkestraße gehörte. Diese Kirche ist ein Backsteinbau­werk im neugotischen Stil, deren 80 Meter hoher Turm das Stadtgebiet weit beherrscht. In dieser Kirche bin ich auch recht bald nach meiner Geburt getauft worden, es war am 6. Oktober 1935.

Die neugotische Backsteinkirche "St. Lamberti" in Gladbeck/Westf.
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Und weiter geht die Reise zu meinem eigentlichen Ziel, das noch weit entfernt liegt. Ich bewege mich durch bekannte Straßen und erreiche nach kurzer Fahrt den Stadtteil „Rent­fort". Hier stehen überwiegend kleine aber schmucke Sied­lungshäuser in Reih und Glied, die von großen grünen Gär­ten umgeben sind und deren Straßen früher Alleereihen von (Im Frühjahr blühenden und wunderbar duftenden Linden-bäumen säumten. Eines dieser Siedlungshäuser hatten sich (meine Eltern in mühevoller Eigenarbeit zu einer Zeit erbaut, als ich noch auf Windeln angewiesen war. Hinter dem Haus befand sich früher ein kleines Stallgebäude für die Hühner, Kaninchen und Schweine, an das sich - wie heute - der Garten anschloß. Dieser war eine besondere Leidenschaft meines Vaters, was sicher seinen Grund in der bäuerlichen Herkunft hatte. Nördlich der Siedlung geht das Stadtgebiet in eine offene Landschaft über, in der auch heute noch ver­einzelte Höfe bewirtschaftet werden. Weite Wiesen und mit Wintersaat bestellte Felder wechseln sich ab mit kleinen Gehölzen. Ein Fleckchen Erde wie geschaffen für Menschen, die zum Wohlfühlen noch Natur um sich herum brauchen. Für uns Kinder war es jedenfalls ein ideales Gelände. Nichts engte uns in unserem Bewegungsdrang ein, keine engen Häuserschluchten und auch keine verkehrsreichen Straßen­züge. Denn Autos gab es in meiner Kindheit nur sehr weni­ge, und wenn doch mal ein Fahrzeug durch die Straße fuhr, dann war das zumeist ein von Pferden gezogenes Fuhrwerk. Wir Kinder konnten uns also nach Herzenslust austoben. Für manchen der Nachbarn und insbesondere auch einigen Bau­ern nicht immer ein Grund zu ungetrübter Freude, sondern auch schon mal Anlaß zu harscher Kritik.

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Erste Schritte

Wir schreiben das Jahr 1937. Noch hat mein bewußtes Da­sein nicht begonnen, deshalb übernehme ich ausnahmsweise die Berichte meiner Eltern und Geschwister als eigene Erin­nerung. Ein Vorgehen, das mir in diesem Fall gerechtfertigt erscheint, weil sich Urerinnerung und zeitlich später erwor­benes Wissen ständig vermengen und wohl nie sauber zu trennen sind.

Meine Familie ist in ein schmuckes Siedlungshaus im grünen Norden meiner Heimatstadt gezogen, das in Gemeinschaftsarbeit aller Siedler errichtet worden ist.

Es trägt die Nummer 62 in einer Reihe gleichartiger Häuser in der Danziger Straße. Erst als alle Rohbauten erstellt waren, konnte jeder sich um den inneren Ausbau des eigenen Hauses kümmern. Die Finanzierung der Häuser wurde durch Arbeitgeberdarlehen, Hypothekenleistungen der Banken und Aufstockungsdarlehen der Siedlungsbau- gesellschaft sichergestellt. Diese Gesellschaft war auch für die Baudurchführung verantwortlich und stellte dafür das beratende Fachpersonal zur Verfügung.

Das Siedlungshaus meiner Eltern in der Danziger Strasse (heute Josefstrasse)
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Nichts von all dem nehme ich in meinem noch unterentwickelten Zustand wahr. Wenn es aber trotzdem schon eine Erinnerungsprägung gegeben haben sollte, so lag die wohl eher im Bereich der Nahrungsaufnahme. Denn im Frühstadium meiner menschlichen Entwicklung waren mir mütterliche Zuneigung und Wärme, doch vor allen Dingen der Drang zur mütterlichen Brust wichtigste Lebensäußerung, allerdings bemühte ich mich außerdem mit großem Eifer, meine Welt in einer schnelleren Gangart als in der Bauchlage zu erkunden. Doch mit dem Laufen hatte ich so meine Schwierigkeiten, wie dann später von den Geschwistern immer mit ein wenig Käme berichtet wurde. Denn ich lag in dieser Disziplin im Vergleich mit altersgleichen Kindern weit zurück. Wohl auch, weil ich mit einer ausgeprägten Übergewichtigkeit zu kämpfen hatte, die sicher ihre Begründung in meiner immer noch ausdauernden Vorliebe für eine kindgerechte Nahrungsaufnahme an der Mutterbrust hatte. Und so ließ mich mein im Bereich des verlängerten Rückens befindlicher Schwerpunkt immer wieder auf denselben plumpsen, sobald ich auch nur einen Schritt in aufrechter Stellung wagte.

Doch bei so vielen und guten Beispielen für das aufrechte Gehen, an dem es in meinem unmittelbaren Umfeld ja nicht mangelte, lernte auch ich irgendwann diese Disziplin. Denn neben meinen Eltern hatte ich noch vier Geschwister, die sich alle um das Nesthäkchen in der Familie kümmern konnten. Meine Schwestern Luzi und Mia, die die ältesten waren, und dann noch meine Brüder Josef und Hugo. Die beiden Schwestern waren mir schon zwölf bzw. zehn Lebensjahre voraus. Alle zusammen bildeten wir also eine richtiggehende Großfamilie, die das neue Heim nicht nur mit Leben, sondern auch noch bis auf das allerletzte Zimmerchen füllten.

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Kriegsboten

Und so gingen die Jahre ins Land. Ich wuchs an Körpergröße und Verstand und nahm nun auch bewußter meine Umwelt wahr. Vom herrschenden Krieg merkte ich noch nichts. Ich hätte mir darunter auch nichts vorstellen können. Nur die Soldaten, die allerdings noch sehr selten zu sehen waren, lösten bei mir wegen ihrer schmucken Uniform mein Interesse aus. Etwa um die Jahre 1940/41 veränderte sich jedoch zusehends mein Lebensumfeld. Hinter unserer Siedlung wurden in dem Feld des Bauern Feldhaus mehrere Holzbaracken aufgestellt. Dann warf man an verschiedenen Punkten des Feldes zwischen der Siedlung und dem Bauernhof große Wälle auf. Und schon bald danach zogen viele Soldaten in die Baracken ein und stellten hinter den aufgeworfenen Erdwällen Geschütze auf. Diese Geschütze nannten sie „Flak", und - so erzählte man uns Kindern - die sollte uns vor Angriffe feindlicher Flugzeuge schützen. Wir verstanden das zwar noch nicht so richtig, denn „feindliche Flugzeuge" hatten wir noch nicht gesehen. Trotzdem war das für uns Kinder eine tolle Sache, und fortan trieben wir uns mit Vorliebe in jeder freien Minute in der Nähe dieser Flak-Stellung herum. Natürlich sehr zum Ärger der Soldaten, aber auch unserer Eltern.

Und noch etwas anderes weckte unser ganzes Interesse. An den Wochenenden marschierte nämlich das „Jungvolk" in Reih und Glied unter Pfeifen- und Trommelklang und Lieder singend durch die Straße. Allen voran marschierte ein einzelner „Pimpf" - so nannten sich die uniformierten Jungen -, der mit sichtbarem Stolz einen Wimpel trug. Wir Kinder waren davon so fasziniert, daß wir am liebsten gleich mitmarschiert wären. Auch weil wir wußten, daß diese Gruppen, die sich „Fähnlein" nannten, über das Wochenende zu Geländespielen und sicher einer Menge interessanter Abenteuer in ein nahegelegenes Zeltlager zog. Doch alles Bitten bei den Eltern hatte keinen Erfolg. Jedesmal wurden wir recht barsch abgewiesen, und eine plausible Erklärung für die Ablehnung wurde uns auch nicht gegeben. Zumindest schien es uns so. Vielleicht wollten wir die Eltern ja auch nicht verstehen. Erst sehr viel später wurde uns bewußt, daß es sich bei dem „Jungvolk" um eine Kinder- und Jugendgruppierung der Nationalsozialisten handelte, deren menschenverachtendes Ideen- und Gedankengut unsere Eltern strikt ablehnten. Nur haben sie uns das - wohl auch aus einem gewissen Selbstschutz heraus - nie so deutlich gesagt.

Dann kam die Zeit in der Lebensmittel immer knapper wurden. Rationiert waren sie schon lange. Zu diesem Zweck gab es von der Stadtverwaltung Lebensmittelmarken, auf denen die einzelnen Lebensmittelmengen verzeichnet waren. Nur diese Zuteilungen konnte man dann in bestimmten Wochen oder Monaten beim Lebensmittelhändler kaufen. Das war eine schlimme Zeit, ganz besonders für große Familien. Oft wußten die Mütter nicht, wie sie die hungrigen Mäuler ihrer Kinder stopfen sollten. Deshalb wurde auch viel Phantasie darauf verwendet, zusätzliche Lebensmittel zu organisieren. Entweder bei Verwandten auf dem Lande oder aber durch Eigenanbau. Jedes Garteneckchen und - sofern man es bekommen konnte - auch jedes Stückchen Pachtland vom Bauern wurde mit allem, was den Hunger stillen konnte, wie Salat, Gemüse, Kartoffel und Getreide, bepflanzt, um den kargen Küchenzettel zu ergänzen. Und wenn dann in den Herbstwochen Erntezeit war, dann gab es für die gesamte Familie viel zu tun. Es wurde gepflückt, verarbeitet, eingekocht und eingekellert was der Garten hergab, um über den langen Winter zu kommen. Auch wir Kinder mußten dann kräftig mithelfen, ob es uns Spaß machte oder nicht. So saßen wir in dieser Zeit oft im Garten unter der Laube und lösten z.B. Erbsen aus der Schale, entfernten Stiele von Pflaumen und Kirschen oder entkernten diese. Die Mutter füllte sie dann in große Gläser und kochte sie ein. um sie für die Lagerung haltbar zu machen. So füllten sich mit der Zeit Kisten, Truhen, Regale und auch Fässer in den Kellerräumen immer mehr.

Außerdem wurden im kleinen Stall hinter dem Haus Schweine, Kaninchen, Hühner, Enten und Gänse gehalten. Zwar war das sogenannte „schwarze" Schlachten von Tieren, insbesondere von Schweinen, von den Behörden streng verboten worden, doch der Hunger, der die Menschen plagte, kümmerte sich nicht um solche Verbote. Und so wurden die Schweine dann heimlich in der Nacht geschlachtet und sofort unter kundiger Anleitung eines Metzgers zu Würsten und anderen leckeren Sachen verarbeitet. Für mich war das immer ein großes Ereignis, und ich tat alles, um dabei sein zu können. Denn meine Neugier war schon in meinen frühen Kindheitstagen sehr ausgeprägt. Zwar tat mir das arme Schwein jedesmal sehr leid, aber dieser Anflug von Trauer verlor sich im Verlauf der folgenden Stunden, in denen das mir vorher so vertraute Wesen zunehmend seine ursprüngliche Form verlor, immer mehr. Der Metzger schnitt und sägte, löste Knochen aus und formte die Schinken. Dann wieder würzte und mengte er mit seinen großen und kräftigen Händen in der Wurstmasse herum. Derweil siedeten in dem großen Waschkessel allerlei Fleischknochen und andere Teile des Schweines vor sich hin, während die Eltern unentwegt Wurstmasse in vorbereitete Därme füllten. Dabei waren auch wir Kinder gefordert, denn wir mußten die Kurbel des Fleischwolfes drehen. Während all dieser Arbeiten waren Türen und Fenster des Wäschekellers, in dem sich das alles abspielte, fest verschlossen, damit das heimliche Treiben nicht nach draußen verraten wurde. Was zur Folge hatte, daß der Raum ständig voller dichter Kochschwaden war, in denen wir uns wie Schemen bewegten.

Spätestens in den frühen Morgenstunden waren dann aus dem Schwein Würste, Schinken, Speckseiten, Schwartemagen und in vielen großen Gläsern eingekochtes Fleisch und Brotaufstrich geworden. Auch stand der von uns Kindern besonders geliebte „Panhas" schon zum Abkühlen im Regal bereit, um am folgenden Tag unsere Gaumen zu erfreuen. Natürlich war die Nachtschlachterei zumindest vor den nächsten Nachbarn nicht zu verbergen, denn dafür sorgte schon der verräterische würzige Duft der Wurstmischungen, der trotz geschlossener Fenster und Türen durch alle Ritzen nach draußen zog und sich ungehindert dort verbreitete. Doch die Nachbarn verrieten schon aus eigenem Interesse nichts, denn irgendwann passierte dort ja dasselbe. Fürwahr eine verrückte Zeit, doch sollten das alles nur die Vorboten sehr viel schlimmerer Ereignisse sein, die sich in kleinen Zeichen drohend bemerkbar machten. Nur ich bemerkte von all dem mit meinem kindlich begrenzten Horizont noch nichts. Mich beschäftigte in dieser Zeit, es war das Frühjahr 1942, viel mehr der Gedanke an die Schule, denn die Tage und Wochen der unbegrenzten und unbeschwerten Freizeit waren gezählt. Außerdem verunsicherte mich die Tatsache, daß ich immer noch nicht wußte, ob ich mich auf das In-die-Schule-gehen freuen sollte oder nicht.

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Die Einschulung

Aus tiefsten Träumen holt mich meine Mutter am frühen Morgen in die rauhe Wirklichkeit des ersten Schultages. Nun ist es soweit. Der Ernst des Lebens beginnt. Zögerlich verlasse ich das warme Bett und muß dann ein besonders aufwendiges Waschprogramm über mich ergehen lassen. Anschließend werde ich fein herausgeputzt. Was mich bei diesem Verfahren am meisten stört ist die Tatsache, daß mir zum guten Schluß auch noch die obligatorische „Schulschürze“ umgebunden wurde. Es war eine einfache Latzschürze mit einer in der Mitte aufgenähten großen Tasche. Für einen Jungen ein geradezu beschämender Akt, aber in jener Zeit wohl ein zwingendes Erfordernis für die I-Dötzchen. Dabei litten wir Jungen schon reichlich unter einem zwar praktischen aber dennoch unmöglichen Haarschnitt, den alle verächtlich „Glatze mit Vorgarten“ nannten. Aus der Sicht der Eltern hatte diese Haarschur jedoch den ungeheuren Vorteil, daß sie mit einfachstem Handwerkszeug selbst vorgenommen werden konnte. Bei diesem Haarschnitt wurde mit Ausnahme eines kleinen halbmondförmigen Haarbüschels oberhalb der Stirn, dem sogenannten „Vorgarten“, die restliche Kopffläche mit der Haarschere kahl geschoren. Diese Unbill mußten wir Jungen etwa bis zu unserem sechsten oder siebten Lebensjahr ertragen, bis auch wir dann zum Friseur durften, um uns die erste „Herrenschnitt-Frisur“ verpassen zu lassen.

Doch zurück zu den frühmorgendlichen Vorbereitungen für den ersten Schulgang. Es fehlte nun eigentlich nur noch das wichtigste Utensil, der Ledertornister. In dem befand sich ein hölzerner Griffelkasten und die unentbehrliche Schiefertafel, an der an zwei kurzen Kordeln ein Tafelschwamm und ein gehäkelter Tafellappen hingen. 

So aufgezäumt machten meine Mutter und ich uns auf den Weg zur etwa zehn Minuten entfernten Schule an der Hegestraße, die – wie ich später erfuhr – aufgrund der nationalsozialistischen Verhältnisse von „Josefschule“ in „Wedding-Schule“ umbenannt worden war. Der Platz vor der Schule war schon voll von kleinen Mädchen und Jungen, die sich ein wenig verunsichert in der Nähe ihrer Eltern aufhielten. Dann mußten wir uns alle vor dem großen Schulgebäude versammeln und ein Lehrer verlas die Klasseneinteilung. Anschließend wurden wir in die Schule geführt, und zwar jede Einzelgruppe in den für ihn bestimmten Klassenraum. Dort wurde uns unser Klassenlehrer vorgestellt. Nach einer kurzen Begrüßung und der Verlesung des Stundenplanes erhielten wir dann unsere Schulbücher. Damit endete auch schon der erste Schultag, und meine schlimmsten Befürchtungen der letzten Tage und Wochen hatten sich – erfreulicherweise – nicht bestätigt. So kann es getrost weitergehen, dachte ich bei mir.

Entsprechend unernst gestaltete ich dann auch die nächsten Schultage. Mein Freund aus der Nachbarschaft und ich stiefelten zwar zeitig in Richtung Schule los, jedoch mit so mancherlei Unterbrechungen. Als wir nach Stunden endlich die Schule erreichten, stürmte uns schon die Klasse entgegen. Wir waren pünktlich zum Schulschluß angekommen. – Das war der zweite Schultag. – Der dritte und der vierte verliefen nicht viel anders, außer daß wir jetzt in der Nähe der Schule in einem Versteck den Schulschluß abwarteten. Daß das auf Dauer nicht gutgehen konnte, war klar. Und die Strafe der Eltern, die von unserer Art des „Schulbesuches“ Wind bekommen hatten, folgte auf dem Fuße: Stubenarrest. Für mich die schlimmste aller Strafen, weil sie mich davon abhielt, mit meinen Freunden durch die nähere und weitere Umgebung zu streifen. Immer auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit für irgendeinen Schabernack. Mal waren es die leckeren Beeren in des Nachbars Garten. Dann wieder die Birn-, Apfel- oder Pflaumenbäume auf den Grundstücken der naheliegenden Bauernhöfe. Natürlich waren all diese Früchte auch im elterlichen Garten zu haben, aber der Reiz, sie zu stibitzen, war übergroß. Und so waren wir wohl manchmal eine rechte Plage für unser Umfeld.

Bei solchen Streichen war der Drang, sich vor den Spielkameraden zu beweisen oder in einer risikohaften Situation zu bestehen, sicher stärker als das schlechte Gewissen, das sich dabei regte. Und bei soviel Unvernunft war es auch nicht verwunderlich, daß es in der Folge zu „Besuchen“ der heimgesuchten Nachbarn und Bauern bei meinen Eltern kam. Das war für mich – wie man sich wohl denken kann – natürlich äußerst unangenehm und zumeist auch folgenreich.

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Der "Fallschirmsprung"

Wir schreiben noch immer das Jahr 1942. Die Schule ist schon zu einem festen Bestandteil meines täglichen Lebens geworden, obwohl der Tag der Einschulung noch nicht sehr weit zurückliegt. Nur das ständige Stillsitzen und die dauernde Konzentration auf den Lehrer und den vermittelten Lehrstoff fallen mir immer noch sehr schwer. Deshalb nehme ich jede Gelegenheit wahr, meinem Bewegungsdrang das rechte Ventil zu verschaffen. Dafür boten sich der Schul- weg aber auch die Schulpausen an. Auch während des Unterrichts war ich immer in Bewegung. Meine Beine schwangen unterhalb der Schulbank wie der Perpendikel einer Uhr beständig hin und her. Eine Bewegung, die meine Banknachbarn natürlich bemerkten und sich in ihrer Konzentration gestört fühlten. Als ich sie mal wieder mit meiner Wipperei nervte, ergriff mein Vordermann durch den rückwärtigen Spalt seiner Sitzbank meinen Fuß und zog diesen schmerzhaft nach oben. Ich schrie auf und drückte mit aller Gewalt den Fuß nach unten, um mich aus seinem Griff zu befreien. Das war dann für das Schlitzohr genau der Zeitpunkt, meinen Fuß freizugeben, mit der Folge, daß dieser mit aller Gewalt auf den Holzfußboden des Klassenraumes aufschlug. Es gab einen ungeheuren Knall, der Lehrer und Mitschüler hochfahren ließ. Es folgten eine Strafpredigt des Lehrers über mein Verhalten im Unterricht und die Verweisung aus dem Klassenraum. Vor der Klassentür sollte ich über mein ungezogenes Verhalten in der Schule nachdenken. Doch ich fand mich ungerecht behandelt, außerdem war ich furchtbar wütend auf meinen Vordermann, der mir diesen Schabernack gespielt hatte. Deshalb hielt ich mich auch nicht sehr lange vor dem Klassenraum auf, sondern beschloß: für mich ist jetzt Schulschluß. Und schon machte ich mich – ohne daß ich große Gewissensbisse verspürte – auf einen recht ausgedehnten und unterhaltsamen Heimweg. 

Diese Geschichte hat zwar unmittelbar nichts mit der Geschichte über den „Fallschirmsprung“ zu tun, aber sie vermittelt doch einen Eindruck von meinem ausgeprägten Drang nach Bewegung und Aktion. Diese Veranlagung, gepaart mit großer Neugier, ließen mich immer auf der Suche nach kleinen und großen Abenteuern sein. Ein Umstand, der meinen Eltern wohl ständig Sorgen bereitet hat. Für mich war bei all meinem Tun nie eine böse Absicht im Spiel, sondern wohl eher nur eine kindliche Unbekümmertheit oder auch Leichtfertigkeit. Diese ließen mich dann eines Tages auch in das Abenteuer „Fallschirmsprung“ stolpern. – Doch hübsch der Reihe nach.

Während einer Schulpause machte sich mein Schulfreund in einer kleinen Jungenrunde einmal sehr wichtig. Er könne sich, so sagte er mit geheimnisvoller Stimme, wie an einem Fallschirm hängend hoch aus der Luft auf die Erde herablassen. Als wir ihn daraufhin wegen seiner Angeberei hänselten und auslachten, wurde er ziemlich wütend auf uns. Er werde es uns schon beweisen, wir müßten nur einmal bei passender Gelegenheit mit ihm mitkommen. Mir ließ das fortan keine Ruhe mehr und ich bedrängte ihn beständig, mir doch das „Fallschirmspringen“ einmal zu zeigen. Als sich dann endlich für uns beide ein günstiger Tag ergab, – seine Eltern waren zum Einkauf in die nahe Stadt gefahren und die meinen wollten an diesem Tage auf dem etwas abseits unseres Hauses gelegenen Pachtland die Frühjahrssaat ausbringen –, zogen wir beide nach Schulschluß zu einem an der Straßenkreuzung Hege- und Kampstraße gelegenen kleinen Wäldchen, das das Gelände der Gemeindeschwestern samt angeschlossenem Kindergarten umfaßte. Dort wuchsen viele junge Buchen, Birken und Erlen in dichtem Bestand, der mit einigen größeren Eichen durchsetzt war. Wir überkletterten den das Gelände begrenzenden körperhohen Jägerzaun. Mein Freund ging suchend durch das Wäldchen, den Blick oft nach oben richtend. Ich angespannt immer hinter ihm her, bis er dann endlich vor einer schlankgewachsenen etwa armdicken Buche stehen blieb, die sich – nach meiner erinnernden Schätzung – wohl bis in eine Höhe von sechs bis sieben Metern reckte. Und hier erklärte er mir dann auch, wie man „Fallschirmspringen“ spielen könne. Wichtig sei, daß man bis in die äußerste Spitze des Baumes klettere, dort, wo die Äste schon so dünn seien wie ein Besenstiel. Dort schwinge man hin und her, bis die Baumspitze beginne, sich unter dem Gewicht hinunter zur Erde zu biegen. Dann müsse man sich nur noch gut festhalten, mit den Füßen vom Stamm abstoßen, und schon schwebe man, an der Baumspitze hängend, in Richtung Boden. Jetzt nur noch zur rechten Zeit loslassen, und schon habe man den ersten „Fallschirmsprung“ erfolgreich beendet.

Bedenken, die sich wohl in meinem Gesicht abzeichneten, wischte er mit der Erklärung hinweg, daß er das schon sehr oft gemacht habe, und passieren könne mir dabei eigentlich auch nichts. Und schon begann er, auf den Baum zu klettern. Ich hinterher, was – wie sich später herausstellen sollte – ein folgenschwerer Fehler war. Mein Freund kletterte höher und höher, bald hatte er die Spitze erreicht,  während ich noch auf dem Wege nach oben war. Plötzlich begann – für mich viel zu früh – die Baumspitze hin und her zu schwingen. Ob das durch unser gemeinsames Gewicht oder durch eine bewußte Aktion meines Freundes ausgelöst worden war, kann ich nicht mehr sagen. Dann ging alles sehr schnell. Ich versuchte noch, mich an den Baumstamm zu klammern, denn für ein Herablassen hatte ich noch nicht die richtige Höhe erreicht, während sich das Stämmchen unter der Last meines Freundes bog und bog. Als er dann plötzlich losließ, schnellte der Baum wie ein stark gespannter Bogen in seine Ausgangslage zurück und schüttelte mich wie eine reife Frucht aus seiner Krone. Dann ein dumpfer Aufprall auf den Waldboden, begleitet von einem hörbaren, knackenden Geräusch. Zunächst lag ich ein wenig benommen auf dem Waldboden. Mein Freund holte mich in die Gegenwart zurück. Doch als ich mich aufrichten wollte durchfuhr ein stechender Schmerz meinen rechten Arm, auf dem ich lag. Ich wälzte mich zur Seite und besah mir den Arm. Der Unterarm hatte eine erschreckend abnorme Stellung angenommen. Er war gebrochen.

'Was werden wohl die Eltern sagen?', war mein erster Gedanke. Und mein nächstes Problem: wie komme ich über den hohen Jägerzaun am Rande des Wäldchens? Das löste zu meinem Glück ein hilfreicher Mann, der gerade vorbeikam. Ich machte mich dann, den gebrochenen Unterarm mit der linken Hand stützend, auf den Weg in Richtung Elternhaus, das nur einige hundert Meter entfernt war. Eine Nachbarin, die sah, wie es um mich bestellt war, überbrachte dann die Unglücksbotschaft meinen auf dem Pachtland arbeitenden Eltern. Bald schon sah ich meine Mutter mit besorgtem Gesicht auf mich zueilen. Ich beichtete ihr mit etwas weinerlicher Stimme mein Unglück und wunderte mich über ihre Reaktion. Sie sagte nichts, kein Vorwurf aber auch kein Trost kamen über ihre Lippen. Sie war wohl selbst ein wenig geschockt. Ich hielt mich ruhig und wartete klaglos alles ab.

Nachdem meine Mutter mich vom größten Schmutz befreit hatte, ging es dann mit der Straßenbahn zum Krankenhaus in die Stadt. Insgesamt war das eine sehr zeitaufwendige und schmerzintensive Aktion, letztlich aber die schnellstmögliche Art, ärztliche Versorgung zu erreichen. So lernte ich, gerade einmal eingeschult, schon in frühen Kindheitstagen ein Krankenhaus, einen Operationssaal, einen Gipsarm und eine freundliche Operationsschwester kennen, der ich allerdings bei ihrem tröstenden Zuspruch nach der Operation zu allem Unglück noch das Ordenskleid besudelte. Wohl eine Folge der damals noch üblichen Äthernarkose. Mir war das ungeheuer peinlich.

Meine stille Hoffnung, wegen meiner Verletzung nun vom Schulunterricht befreit zu werden, erfüllte sich zu meinem größten Bedauern leider nicht. Doch blieb ich als Rechtshänder von den Schreibübungen verschont, die wir fast täglich als Hausaufgabe zu verrichten hatten. Eine eintönige und zeitaufwendige Angelegenheit, weil alles ganz akkurat sein mußte. Ein weiterer „Vorteil“, nämlich von Nachbarn, Verwandten und Freunden, ja selbst von den Mitschülern und Lehrern ein wenig bedauert zu werden, der verlor sich verhältnismäßig schnell. Deshalb war der Gipsarm alsbald nur noch eine ziemliche Behinderung, wie es auch das in dieser Zeit aufgenommene Foto beweist. Denn kurz nach meinem Armbruch war – wie üblich – in den Klassen der I-Dötzchen große Fotoaktion angesagt. Und so blicke ich – verständlicherweise – ein wenig traurig in die Kamera, den rechten Arm im Dreiecktuch versteckt und mit der linken Hand den Griffel umfaßt, um ein Schreiben auf der darunterliegenden Schiefertafel anzudeuten.

Der verletzungsbedingte "Linkshänder"
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Meine schulische Lern- und Lebensphase begann also gewissermaßen mit einem Handicap, aber wohl auch mit heilsamen Erfahrungen, die sich tief in mein Gedächtnis eingegraben haben. Vielleicht haben diese auch – ohne daß es mir bewußt wurde – manche meiner späteren Verhaltensweisen oder sogar meine persönliche Entwicklung vorteilhaft beeinflußt, zumindest will ich das einmal zu meinen Gunsten annehmen.

Doch lassen wir den Dingen ihren Lauf und folgen weiter dem Pfad der Erinnerungen.

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Kinder-Land-Verschickung

Die politische Entwicklung in den Jahren 1942/1943 sollte zu einem Wendepunkt in meinem Leben werden. Die schon geschilderten Einschränkungen in der Lebenshaltung hatten längst gravierendere Formen angenommen. Der Hunger quälte uns beständig, uns Kinder eher körperlich, aber die Eltern wohl auch seelisch, denn sie konnten sich vor unserer ständigen Bettelei nach einem Stück Brot oder etwas anderem Eßbaren nicht retten. Hinzu kamen jetzt auch noch die Ängste vor den ständigen Bomberangriffen, die dem Ruhrgebiet und damit auch meiner Heimatstadt galten. Mein Vater hatte deswegen zum Schutz der Familie bei Angriffen feindlicher Luftverbände im vorderen Teil unseres Gartens einen Luftschutzbunker gebaut. Der sollte zumindest einen gewissen Schutz vor den Splittern detonierender Bomben oder Granaten der großen Flugabwehrgeschütze bewirken. Heulten dann die Alarmsirenen bei einem Anflug feindlicher Verbände auf das Ruhrgebiet, dann schnappte ein jeder von uns seinen vorbereiteten kleinen Rucksack und die Mutter die stets gepackte „Luftschutztasche“ mit den wichtigsten Papieren und hastete in den Garten zum Bunker. Und wenn die Luft dann erfüllt war vom Inferno der Abschußgeräusche der Geschütze, dem Heulen und Krachen detonierender Bomben und der Bunker durch die Explosionswellen erschüttert wurde, dann kauerten wir uns in dem Raum unter der Erde eng zusammen und jeder sah dann wohl schon sein letztes Stündchen gekommen. Aber wie durch ein Wunder krochen wir nach jedem Angriff wieder ans Tages- oder auch Nachtlicht. Auch fanden wir über all die Jahre immer wieder unser Haus unversehrt vor, ja sogar die gesamte Siedlung, obwohl einmal in unmittelbarer Nähe einige Luftminen niedergingen, die aber zu unser aller Glück nicht zündeten. – Es war schon eine recht schlimme Zeit, denn oft verbrachten wir fast täglich mehrere Stunden in dem Bunker und bangten um unser Leben und um unser Hab und Gut.

Die Mangelversorgung der Bevölkerung und insbesondere deren Bedrohung durch die ständigen Bomberangriffe führten dann auch dazu, daß die Kinder aus den gefährdeten Ballungsgebieten, und hier in erster Linie aus dem Ruhrgebiet, im Rahmen der staatlich gelenkten „Kinder-Land-Verschickung“ in ländliche Gebiete gebracht wurden. Eine Maßnahme, die dann eines Tages auch meinen Bruder Hugo und mich traf. Zunächst hieß es, wir kämen auf die Insel Rügen, wo mein Freund aus der Nachbarschaft, der Gerhard Ellermann, dann auch wirklich landete. Wir hatten jedoch das Glück, nahe Verwandte im südwestlichen Münsterland zu haben, und zwar in dem Dörfchen Erle. So fanden wir uns dann nach den großen Sommerferien im Jahre 1943 in diesem Dörfchen wieder. Mein Bruder Hugo kam in das Haus von Onkel Bernhard und Tante Mariechen (der Schwester unseres Vaters), das im Dorfzentrum neben der Kirche lag. Ich wurde bei Onkel Johann (dem Bruder meines Vaters) und seiner Frau Anna untergebracht. Deren kleines Gehöft lag etwa zwei Kilometer vom Dorf entfernt in der „Overbeck“, wie man diesen Teil der Bauernschaft nannte.

Das war eine recht einschneidende und schwierige Situation für uns, da wir diese Verwandten bisher nur vom Hörensagen kannten. Außerdem waren das Elternhaus, die Geschwister und das gewohnte Umfeld für uns unerreichbar weit entfernt. Und dabei machte es auch keinen Unterschied, daß die Verwandten uns durchaus freundliche Gefühle entgegenbrachten. Für uns war nämlich alles neu: das Dorf, die Schule, die ländliche Umgebung und vor allen Dingen die Bezugspersonen in den neuen Familienverbänden. Und so starteten mein Bruder und ich im noch kindlichen Alter von acht bzw. zehn Jahren in dem Dörfchen Erle im südwestlichen Münsterland in einen völlig neuen Abschnitt unseres Lebens.

Das Dorf lag zwar nur zirka 25 Kilometer von unserem Elternhaus entfernt, doch war es weder an einer regelmäßigen Bus- geschweige denn Bahnlinie angebunden. Der nächste Bahnhof befand sich in dem Dorf Rhade, gute fünf Kilometer entfernt. Deshalb waren häufige Besuche der Eltern schon wegen der ungünstigen Verkehrslage schwierig. Fast ganz unmöglich machten diese aber die ständigen Angriffe der Jagdflieger auf Bahnschienen und Züge in den letzten Jahren des Krieges, und erst recht, als sämtliche Brücken über die Lippe und den Wesel-Datteln-Kanal im Raume Dorsten zerstört waren.

Mein Bruder Hugo litt, obwohl er es sich nicht anmerken ließ, wohl schon seit Beginn unseres Aufenthaltes in Erle unter der Trennung vom Elternhaus. Er hatte Heimweh. Mir ist das in dieser Zeit nie aufgefallen. Doch hätte ich ihm dabei wohl auch kaum helfen können, da auch ich in jeder Weise auf mich allein gestellt war. Damit mußte er ganz alleine fertig werden. Mich jedoch nahmen die neue Umgebung, die fremden Menschen und auch die Eingewöhnung in eine neue Schulsituation völlig gefangen. Ich vergaß darüber alles andere, und vielleicht auch mein eigenes Heimweh.

So vertiefte ich mich einfach in das Neue, und da vor allen Dingen in die mir völlig „neue Sprache“. Alle redeten nur Dialekt, das sogenannte „Plattdütsch“. Nur die Erwachsenen konnten sich in einem mühsamen Hochdeutsch verständlich machen. So lernte ich – wenn auch zwangsweise – als erstes westfälisch Platt. Und ich machte dabei erstaunlich schnelle Fortschritte. Schon bald konnte ich die Kinder verstehen und mich auch selbst verständlich machen. Eine wichtige Voraussetzung in dem neuen Umfeld, vor allen Dingen auch dafür, von den Kindern akzeptiert und nicht dauernd wegen meiner Verständigungsschwierigkeiten gehänselt zu werden.

So startete ich in verhältnismäßig jungen Jahren ein zweites Mal in einem völlig neuen Umfeld in das Abenteuer Leben, das für mich voller interessanter Erlebnisse sein sollte. Doch bin ich der Zeit ein wenig voraus. Kehren wir also wieder an den Ausgangspunkt meiner ländlichen Reise zurück.

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Das Münsterland

Das Wetter hatte heute morgen nicht getrogen. Noch immer wölbt sich über mir ein strahlend blauer Frühlingshimmel, während ich, nordwestwärts auf der Landstraße nach Kirchhellen fahrend, den Stadtteil Rentfort verlasse. Links und rechts der Straße dehnen sich noch immer Feld- und Wiesenflächen, obwohl auch hier schon die Bautätigkeit manchen Grünzug in der Landschaft hat verschwinden lassen. Doch es gibt immer noch das ein oder andere Bauerngehöft, so wie ich es aus meiner Jugend kenne.

Ich quere, nun auf der Bundesstraße 223 fahrend, das mit vielen schönen Erinnerungen verbundene Kirchhellen. Die Straße führt, von Bottrop im Süden kommend, nach Dorsten. Die weite, nur leicht gewellte Landschaft liegt wie ein schönes Bild ausgebreitet vor mir. Sie ist durchzogen von baumgesäumten Wegen und Straßen. Wallhecken umgrenzen die Parzellen der Wiesen und Äcker. Und vereinzelte, rotziegelige Bauernhöfe ducken sich wie schutzsuchend tief unter kleine Eichengehölze. Es ist eine Landschaft, wie sie typischer auch für das Münsterland nicht sein kann, in dessen südwestlichstem Zipfel das Ziel meiner heutigen Reise liegt. Schon bald erreiche ich die Kreisstadt Dorsten. Hier folge ich stadtauswärts der Bundesstraße 224 und quere kurz darauf die Brücken, zunächst über den Wesel-Datteln-Kanal und dann über die Lippe. Ich durchfahre jetzt den Ortsteil Holsterhausen, der mir noch in guter Erinnerung ist. Denn hier gab es einen beliebten Badesee, den wir früher insbesondere an heißen Sommerabenden gerne aufgesucht haben. Mit dem Fahrrad war das bei einiger Anstrengung in einer guten halben Stunde zu schaffen.

Die Straße steigt nun zum Freudenberg hin beständig an. Wobei hier – wie auch allgemein für diese Gegend – die Bezeichnung „Berg“ für den höchsten Punkt einer zwar wahrnehmbaren jedoch nur mäßigen Geländeerhebung natürlich irreführend ist. Auf seiner ebenen Höhe kreuze ich die in West-Ost-Richtung von Wesel nach Haltern führende Bundesstraße 58. Eine Straße, die ihren Ausbau wohl den vielen Heerzügen verdankt, die hier seit Jahrhunderten ihren Weg nahmen. So etwa durch Napoleon bei seinen Heerzügen in Richtung Osten, was durch zahlreiche historische Wegsteine belegt wird. Ob sie auch schon tausend Jahre früher Kaiser Karl dem Großen bei seinen Christianisierungszügen gegen die Sachsen gedient hat, kann bislang nur vermutet werden, obwohl einige Archäologen dieses aufgrund von Funden für nicht ausgeschlossen halten. Doch lassen wir die alten Zeiten ruhen und wenden uns wieder der Gegenwart zu.

Ich fahre nun schon eine geraume Zeit durch eine große geschlossene Waldfläche. Ich weiß, daß sie den Namen „Forst Grafschaft Augustus“ führt, bei deren Forstverwaltung mein Onkel Bernhard Kuhlmann zu seinen Lebzeiten beschäftigt war. Deshalb ist mir der Wald auch gut bekannt, und meine Blicke suchen auf seiner höchsten Erhebung den hölzernen Aussichtsturm, dem wir Kinder an den Wochenenden oft einen Besuch abstatteten, obwohl das Besteigen des Turmes, der der Brandbeobachtung diente, verboten war. Aber den Turm scheint es nicht mehr zu geben. Jetzt sind es wohl nur noch fünf Kilometer bis zu meinem Ziel, dem Dorf Erle, das sieben wesentliche Kindheitsjahre der Mittelpunkt meines Lebens war. Der Wald wird lichter und gibt dann plötzlich den Blick frei auf das Dorf, das inmitten weiter Feldfluren liegt. Der Turm der Kirche mit seinem wiedererstandenen Turmhelm grüßt aus der Mitte des Ortes herüber. Mir wird ein wenig warm ums Herz. Erinnerungen, die ich aufsuchen wollte, die bestürmen mich nun. Eine Flut von Gedanken und Gefühlen aber auch von Gesichtern und Geschichten drängen sich mir auf. Und während ich dem Dorf zustrebe, lasse ich mich davon widerstandslos gefangen nehmen.

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Erinnerungen unter der Femeiche

Nach den Jahren meiner Abwesenheit nehme ich die starken baulichen Veränderungen besonders deutlich wahr. Waren früher noch in reichlichem Maße auch im Dorfzentrum Freiflächen vorhanden, so sind diese mit neuen Häusern bebaut. Die ehemalige „Kleine Schule“ für die ersten Klassen beherbergt nun eine Bank und die frühere „Große Schule“ ist leider verschwunden und durch ein modernes Backsteingebäude ersetzt. Das macht mich ein wenig traurig, da doch mit beiden Gebäuden sehr viele Erinnerungen verbunden waren.

Die Kastanienallee zum alten Pfarrhaus (im Hintergrund des Gartens) Die über tausendjährige "Femeiche" zu Erle
Fotos aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Ich biege nun in die Dorf-Ringstraße ein, umfahre das Dorfzentrum und die in dessen Mittelpunkt gelegene Pfarrkirche Sankt Silvester. Hier sind noch einige Häuser in ihrem alten Bestand erhalten, so daß es mir nicht schwerfällt, sie mit ihren früheren Bewohnern in Verbindung zu bringen. Dann wende ich mich dem an einer nach Westen weisenden Nebenstraße gelegenen Gelände des alten Pfarrhauses zu. Hier führte mich früher mein täglicher Weg zur Schule bzw. zur Kirche vorbei. Alles hier ist Erinnerung an Kindheitstage. Die lange Reihe der Edelkastanien, die den Weg zum Pfarrhaus säumt. In jedem Herbst – schon vor, aber erst recht nach der Schule – ein sehr beliebter Tummelplatz für uns Kinder, wo wir jedes Jahr den Wintervorrat an Kastanien sammelten. Doch das eigentliche, geheime Ziel meiner Reise ist die in unmittelbarer Nähe stehende über tausend Jahre alte „Femeiche“. Mit dieser urwüchsigen alten Eiche, der man trotz der heute nur noch vorhandenen spärlichen Überreste ihren ehemals gewaltigen Umfang ansieht, verbindet mich sehr viel. Sie war Spiel- und Aufenthaltsort bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und deren gab es viele, schon deshalb, weil der Schulweg unmittelbar an ihr vorbeiführte. Überraschte uns zum Beispiel mal ein Regenschauer in ihrer Nähe, so bot sie uns sicheren Schutz. Und in der Sommer-Sonnenglut erfrischte sie uns in ihrem kühlen Innern. Denn sie war von einer so gewaltigen Größe, daß in ihrem hohlen Stamm ganze Schulklassen hineinpaßten. Und das ist nicht etwa ein Märchen, sondern die pure Wahrheit. Schon unser Lehrer Otto Kreuter hat das damals häufiger mit uns ausprobiert. Auch las er dann einige der Geschichten aus der Dorfchronik vor, die zur „Femeiche“ folgendes berichteten:

Auch darf es nicht unerwähnt bleiben, daß am 26. August 1819 bei Gelegenheit des damals in der Nähe stattfindenden Manövers der nachmalige König Friedrich Wilhelm IV. dem Dorfe und seiner Eiche einen Besuch abstattete. Der alte Baum grünte fort, aber sein Inneres war morsch geworden. Um 1750 war die Höhlung noch unbedeutend; wir hören um diese Zeit, daß es dem kleinen Sohne des benachbarten Zellers Tellmann große Mühe kostete hineinzukriechen, um die Eier herauszuholen, die des Pastors Enten dort zu legen pflegten. Pastor de Weldige soll dann den Baum haben aushöhlen und einen Eingang zu demselben haben machen lassen. Jedenfalls konnten 1819 der Kronprinz und seine Generäle von Thielemann und von Haacke in der Eiche an einem gedeckten Tische ihr Frühstück einnehmen und dann 36 Infanteristen in marschmäßiger Ausrüstung in der Höhlung Platz finden.

Fortan gab es kein irgendwie bedeutsameres Ereignis in Erle, das nicht unter dem Schatten des Baumes seine rechte Weihe gefunden hätte. So heftete am 5. Juli 1814 der Landrat Devens im Innern desselben dem damals 81jährigen Pastor Lohede den roten Adlerorden an. Auch wenn der Bischof bei Gelegenheit der Firmungsreife nach Erle kommt, pflegt ihm im festlich geschmückten Baume der Ehrentrunk gereicht zu werden. So wurde am 1. Juni 1832 der Bischof an der Schule bewillkommet, dann unter Gesang zur Eiche geleitet und hier mit einem Glase Wein erfrischt; nach Spendung des kl. Sakramentes fuhr er am nächsten Tage weiter nach Altschermbeck. Am 16. Juli 1842 wurde Bischof Kaspar Max feierlichst empfangen, nachdem er am Tage zuvor 150 Kinder der Gemeinde Raesfeld gefirmt hatte. Längere Zeit verweilte in dem Baume am 11. Juli 1851 Bischof Johann Georg an einem runden Tische, der nebst zwölf Stühlen für ihn, seinen Hofkaplan, den Landdechanten von Droste-Senden und neun andere Geistliche aus der Nachbarschaft sowie den Oberrentmeister des Hauses Lembeck im Hohlraume aufgestellt war, nahm er seinen Kaffee ein, und die Herren fühlten sich durch die Enge so wenig belästigt, daß sie erst nach Verlauf von zwei Stunden sich durch den Zugwind bestimmen ließen, in das Pfarrhaus zurückzukehren.

Soweit die Dorfchronik. Wie alt die Eiche wirklich ist, von der man immer nur als der „tausendjährigen“ spricht, läßt sich heute nur vermuten. Jedenfalls wird sie schon zur Zeit Karls des Großen im ausgehenden 8.Jahrhundert als eine mächtige Eiche und Ort der Götterverehrung der dort durch entsprechende Funde nachgewiesenen Sachsensiedlung erwähnt. Sie wurde schon damals und bis auf den heutigen Tag auch die „Ravenseiche“ genannt, ein Hinweis auf die im Asenkult heiligen Rabenvögel des Göttervaters Wodan. An diesem Platz, der genau zwischen der uralten Siedlung östlich des heutigen Dorfes – der sogenannten „Östrich“ – und der jüngeren, merowingisch-fränkischen Niederlassung im Westen – der „Westrich“ – liegt, wurde schon zu fränkischer Zeit die Dorfgründung vorgenommen. Aus jener Zeit stammen auch die ersten Erwähnungen meiner väterlichen Ahnen, die damals an einen „Kaiserhof“ genannten befestigten Schutzhof den „Zehnten“ zu entrichten hatten. Dazu hörten nach den alten Aufzeichnungen in der „Westrich“ die Höfe: Lindenhöwe, ther Hörne und Lütke-Wissing, die noch heute Linneweber, Lütten und Jütten genannt werden. Und „Linneweber“ ist dort im Dorf Erle der Rufname meiner Familie, der auf den Beruf des Leinenwebers zurückgeht. Doch zurück zur „Femeiche“.

Die alte Eiche ist auch von geschichtlich-politischer Bedeutung. Sie war jahrhundertelang Thingstätte, also Versammlungsort der dort ansässigen Sachsen, vornehmlich zur Verehrung ihres Gottes Wodan. Im Mittelalter wurden unter ihrer Krone auch die freien Femegerichte (Feme: von mittelniederdeutsch „veme“ = Strafe) abgehalten, die aus den fränkischen Grafengerichten hervorgegangen sind, als deren Begründer Kaiser Karl der Große angesehen wird. Und diese Nutzung gab ihr dann wohl auch ihren heutigen Namen.

Fürwahr ein geschichtsträchtiger Ort, auch für mich, doch in anderer Hinsicht. Ein Ort, um Kindheitserinnerungen wachzurufen, die hier vor mehr als fünfzig Jahren gelebt wurden.

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Die zweite Einschulung

Meine Mutter hat sich wieder auf den Heimweg gemacht, und ich bleibe bei meinen Verwandten in Erle zurück. Onkel Johann, meines Vaters Bruder, und dessen Frau, Tante Anna, sind nun neben einer großen Zahl von Vettern und Basen mein neuer Familienverband. Wir schreiben das Jahr 1943 und die langen Sommerferien der Schule neigen sich dem Ende zu. Ich habe noch keinen klaren Gedanken fassen können. Und mit dem Begriff „Kinder-Land-Verschickung“ kann ich immer noch nichts anfangen, nur daß ich jetzt weiß, daß dieses Wortungetüm für mein Hiersein verantwortlich ist. 

Das Neue, das auf mich einstürmt, lenkt mich jedoch davon ab, mir darüber großartig Gedanken zu machen. Mein Interesse gilt von Tag zu Tag mehr nur noch dem neuen Umfeld: dem Bauernhof, dem Wohnhaus mit seinem großen Küchenraum, um den herum die Wohnstube und die Schlafkammern angeordnet sind. Von der Küche aus geht es direkt in den Kuhstall, an dessen seitlichen Wänden die Kühe und einige Ziegen hinter hölzernen Gattern stehen. In der Mitte befindet sich die Tenne mit einem Boden aus gestampftem Lehm. Über dem Stall, bis hinauf zum Dachgiebel, lagern die Vorräte an Stroh und Heu. Der Stall für die Schweine befindet sich in einem separaten Gebäude, das man hier „Spieker“ nennt. Dann befindet sich auf dem Hofgelände noch eine Scheune, in der die Landmaschinen aufbewahrt werden. Überall auf dem Grundstück stehen Obstbäume, und im hinteren Teil liegt der große Küchengarten.

Das alles mußte ich erst einmal erkunden. Und kennenlernen mußte ich auch meine neuen Vettern und Basen, sechs Stück an der Zahl. Die älteste war die Agnes, ihr folgten wie die Orgelpfeifen, Hedwig, Josef, Johannes, Maria und das Nesthäkchen Margret, das erst seit einem Jahr auf dieser Welt war. Für alle anderen war ich natürlich auch ein Objekt der Neugierde, denn Stadtmenschen – und das habe ich in den folgenden Jahren noch zur Genüge erfahren müssen – waren in dieser von der Außenwelt noch sehr abgeschiedenen Gegend etwas Besonderes, sie wurden ständig neugierig beäugt und im Grunde wohl auch als etwas Fremdes abgelehnt. Dieses Verhalten ist nicht außergewöhnlich, drückt es doch die durch Erfahrung geprägte Vorsicht vor allem Fremden und vor unbekannten Einflüssen aus.

Dann steht mein erster Schulgang bevor. Meine beiden Vettern, die schon die „Große Schule“ besuchten, sollten mich auf meinem Weg zum etwa zwei Kilometer entfernten Dorf begleiten und wohlbehalten an der „Kleinen Schule“ abliefern. Was sie auch taten. Dann verschwanden sie. Mir war ein wenig mulmig zumute, denn auf dem Schulhof war ich sofort neugieriger Mittelpunkt. Frotzeleien, aber auch dumme und freche Bemerkungen, vielleicht wegen meines anderen Aussehens, tönten mir aus dem Kreis der umstehenden Schüler entgegen. Die Mädchen sagten nichts, die tuschelten nur untereinander. Dann kam die Lehrerin und begrüßte mich. Sofort war der Spuk vorbei. Doch in der nächsten Pause und auch nach Schulschluß, ja selbst in den folgenden Tagen ging das Spielchen weiter. Unter den Jungen tat sich dabei einer besonders hervor. Er beließ es nicht nur bei Worten, sondern begann zu rempeln und zu stoßen, begleitet von Aufforderungen, mich doch zu wehren. Ich versuchte deshalb, ihm möglichst aus dem Wege zu gehen, weil ich – so neu wie ich war – keinen Streit haben wollte. Aber das war wohl ein Fehler von mir. Nun trieb er es noch toller, wahrscheinlich wohl auch, weil er mich für einen Angsthasen hielt. So kam, was kommen mußte. Als er mich eines Tages auf dem Schulhof von hinten umstieß und ich unsanft auf den Boden schlug, da war meine Geduld am Ende. Kaum daß ich mich aufgerappelt hatte stürzte ich auch schon auf ihn ein und meine Faust landete in seinem Gesicht. Das hatte leider kastastrophale Folgen. Er gehörte nämlich zu jenen, die bei all ihrem Tun immer mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen spielen. Man muß nicht raten, was passiert war. Er hatte sich bei meinem Schlag auf die Zunge gebissen, die sofort sehr stark blutete. Wohl mehr durch den Schreck als wegen des Blutes, begann er lauthals zu schreien und rannte schnurstracks quer durch das Dorf in Richtung Elternhaus. Jetzt begann sich auch bei mir das Gewissen zu regen, denn so etwas hatte ich ja nicht gewollt. Aber noch größer war bei mir die Angst vor den baldigen Folgen. Denn ich befürchtete natürlich, daß seine Eltern alsbald in der Schule auftauchen würden. So saß ich dann mit einem flauen Gefühl in der Magengrube in der Klasse, jederzeit die zornigen Eltern erwartend. Doch es passierte nichts. Niemand kam, niemand petzte und auch die Lehrerin Mathilde Aldiek stellte keine Fragen. Ich habe nie erfahren, ob sie, da sie doch die Aufsicht auf dem Schulhof führte, die Balgerei mitbekommen hatte oder nicht.

Nach diesem Vorfall hörten die Spielchen der Mitschüler sofort auf. Ob nun wegen der „blutigen Folgen“ oder weil ich auf ein bei Kindern und Jugendlichen häufig anzutreffendes Ritual der Provokation zur rechten Zeit die richtige „Antwort“ gegeben hatte, ich weiß es nicht. Jch wollte es auch nicht wissen, denn nach dieser Aktion war ich im Kreise der Mitschüler akzeptiert. Und mit meinem „Opfer“ wurde ich im Verlauf der Jahre noch gut Freund.

Der Bann war gebrochen. Nun wurde ich auch außerhalb der Schule angenommen und zu mannigfachen Unternehmungen an den freien Tagen eingeladen, auch in die Familien. Das war auf dem Lande keine reine Selbstverständlichkeit, denn nach der herrschenden Werteskala war ein Großbauer mehr als ein Bauer, ein Bauer mehr als ein Handwerker oder Kätner und diese wiederum mehr als ein Arbeiter. Eine ungeschriebene Hierarchie, an die sich jeder, wenn auch vielleicht nur unbewußt, hielt. Besonders deutlich wurde dieses Verhalten – wie ich später feststellen konnte – bei Heiraten im Dorf, insbesondere unter Bauernkindern. Da trafen vorwiegend die beiden Elternpaare die Auswahl und die Ausstattung. Und bei diesem Handel zählten dann weniger Aussehen und Alter, sondern wohl eher das Ansehen und die Hektarzahlen der Höfe.

Doch waren dies nicht die Dinge, die mich als Kind interessierten, sondern eher spätere Erkenntnisse für so manches unverständliche Verhalten, dem ich in den Jahren dort auf dem Lande begegnet bin. Für mich war die Welt, so wie sie war, weitgehend in Ordnung.

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Ungebundenes Leben

Daß ich für meine Verwandten, die nur einen kleinen Kotten betrieben, bei der eigenen großen Kinderzahl eine gewisse Belastung war, das habe ich erst später begriffen. Doch dieses Problem löste sich auf eine überraschende Weise und auch zur allseitigen Zufriedenheit. Denn in einem Dorf von rund 800 Einwohnern, dessen heiratswillige Bürger ihre Partner selten außerhalb der Dorfgrenzen suchten, und in dem meine väterliche Linie seit vielen Jahrhunderten ansässig war, da ist natürlich fast jeder mit jedem verwandt. Und so sprach mich eines Tages, als ich mich gerade auf dem Weg von der Kirche nach Hause befand, die Frau eines Nachbarbauern an, ob ich nicht bei ihnen auf dem Hof leben wollte. Sie fühlten sich, seit ihre beiden Söhne Soldaten seien, in ihrem großen Haus mit ihrer einzigen, noch jugendlichen Tochter ein wenig einsam. So viele Zimmer ständen leer, und bei meinen Verwandten ginge es ja wegen der eigenen Kinder doch recht eng zu. Sie hätte schon mit meinen Verwandten und auch mit meinen Eltern gesprochen, und die hätten gegen eine Veränderung nichts einzuwenden. Das und das Argument mit der Enge überzeugten mich. Aber auch ansonsten fand ich die freundliche Frau, die recht bescheiden auftrat, sehr nett. Unser beider Verwandtschaftsverhältnis, das sie mir eingehend erklärte, habe ich bis heute nicht so richtig erfaßt. Allerdings habe ich mich auch nie um Aufklärung gekümmert. Aber allein schon die Tatsache, daß auch sie „Bußkamp“ als Beinamen führten, ließ wohl auf ein bestehendes Verwandtschaftsverhältnis schließen.

So zog ich schon kurz nach diesem Gespräch von meinen Verwandten Linneweber (Buskamp) in die Nachbarschaft zu den Verwandten mit dem Namen Oesing (Bußkamp). Die besaßen im Vergleich zu meinem Onkel einen großen Hof mit entsprechendem Wohnhaus, Stallungen, Scheunen und Remisen. Und was mir besonders imponierte, das waren die Pferde auf dem Hof. Eines, eine Stute mit Namen Fanni, das war mir das liebste. Es war lammfromm und gehorchte aufs Wort, auch dann, wenn ich die Leine führte. Vielleicht war das auch der Grund dafür, daß ich sehr gerne Arbeiten gemeinsam mit Pferden verrichtet habe, ob auf dem Hof oder auf dem Feld. Erfreulicherweise wurden mir mit zunehmendem Alter auch solche Arbeiten erlaubt, wobei zu bedenken ist, daß altersangepaßte Kinderarbeit auf dem Lande nicht die Ausnahme, sondern ständige Übung war.

Die Hofanlage Oesing in Erle, Overbecker Weg 6 (früher Overbeck 22)
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Nun hatte ich also meine zweiten „Pflegeeltern“, die mich sehr liebevoll und fast wie ihren eigenen Sohn behandelten. Neben den Bauersleuten war noch die ältere, unverheiratete Schwester des Bauern auf dem Hof, die ein jeder nur Tante“ rief, so daß ich ihren Vornamen, der Christine war, lange nicht kannte. Die Tochter Maria hatte die Schule schon hinter sich, so kam sie für mich als Spielgefährtin nicht in Frage, auch weil sie schon so intensiv in die Hofarbeit eingespannt war, daß sie für Kinderspiele nicht die Zeit hatte. Auch hatte sie mehr Augen für einen jungen Burschen aus Essen, der auf dem Hof sein „Landjahr“ machte. Das war ein lustiger Vogel, genauso wie sein Name, denn er hieß Hansel Tripptrapp. Seine Freizeit verbrachte er mit Taubenzucht, und so war er in jeder freien Minute in einem Verschlag auf dem Dachboden des Spiekers zu finden, in dem sich im Erdgeschoß auf der einen Seite das Backhaus und auf der anderen Seite der Schweinestall befanden. Das war in der Folge dann auch mein bevorzugter Aufenthaltsort, worüber ich auch schon mal meine sonstigen Aufgaben oder Schularbeiten vergaß. Zahlreich waren meine Verpflichtungen in dieser Zeit ja nicht. Täglich Hühnereier einsammeln, auch die an versteckten Orten in der Scheune, an denen die Hühner oft lieber als im Stall ihre Eier legten. Dann hatte ich ab und zu auch beim Viehfüttern mitzuhelfen. An jedem Freitag war großer Backtag auf dem Hof. Dann heizte ich den Backofen auf die richtige Temperatur an. Eine Arbeit, die ich sehr gerne machte, denn dann konnte ich beim Blick in das Feuer meinen Gedanken nachhängen. Auch erfüllte mich dann schon die Vorfreude auf den duftenden, frischgebackenen Stuten mit Rosinen, an dem ich mit Vorliebe heimlich herumknibbelte. Die Samstagsarbeit war weniger erfreulich, denn dann hatte ich den Vorgarten zu harken und den großen Hof mit einem Reisigbesen zu fegen. Auch waren die verdreckten Holzschuhe (Klumpen genannt), die wir ständig trugen, mit Wasser, Sand und einer Wurzelbürste sauber zu scheuern. Natürlich nicht nur die eigenen, nein, auch die aller anderen Familienmitglieder. Aber danach hatte ich dann, bis auf den Kirchgang, freies Wochenende.

Aber auch unter der Woche verblieb mir noch genug Freizeit. Und da jeder auf dem Bauernhof mit seinen eigenen Arbeiten beschäftigt war, konnte ich meinen Interessen nachgehen. Das tat ich auch sehr ausgiebig. Dabei war mir mein Vetter Johannes Linneweber der liebste Begleiter. Mit ihm hatte ich mich schon kurz nach der Ankunft bei meinen Verwandten angefreundet. Später waren wir dann fast unzertrennlich und so oft es ging in der Bauernschaft unterwegs, auch ohne ein besonderes Ziel. Manchmal trafen wir uns auch mit Schulfreunden auf anderen Bauernhöfen oder waren häufige – auch ungebetene – Zaungäste in der nahegelegenen Ziegelei Menting, denn da gab es immer etwas zu sehen. Noch reizvoller für uns waren aber die vielen Nester von Krähen, Elstern und auch Habichten hoch in den Bäumen. Da hielt uns nichts unten, da mußten wir hinauf, um nachzusehen, ob schon junge Brut in den Nestern war. Daß nie etwas bei dieser Kletterei passierte, das hatten wir wohl besonders guten Schutzengeln zu verdanken.

Brannte im Sommer aber die Sonne heiß vom Himmel, dann waren die zahlreichen ehemaligen Kies- und Lehmgruben, die sich mit Wasser gefüllt hatten, unser Ziel. Nichts war schöner, als in den Wassern herumzutoben, den Fröschen und kleinen Fischen nachzustellen oder einfach nur den bunten Libellen bei ihren kunstvollen Flügen zuzusehen. Bei diesen Badevergnügungen lernte ich dann auch unter Anleitung meiner älteren Vettern allmählich das Schwimmen. Natürlich nicht so kunstvoll und stilrein, wie das bei einem Bademeister geschieht, aber ich hielt mich mit diesem „Hundepaddeln“ jedenfalls über Wasser. Diesen Sommerspaß konnte ich mir aber nicht oft gönnen, weil ich dann auch häufiger bei Erntearbeiten eingespannt war. Jedoch wurde ich dabei durch die Arbeit mit Pferden reichlich entschädigt, insbesondere wenn ich mit der Stute Fanni unterwegs sein konnte, um Heu- oder Getreidefuder zum Hof zu bringen.

Nahte dann der Herbst mit all seinen leckeren Beeren im Garten, den Kirschen, Birnen, Äpfeln und Pfirsichen auf den Bäumen, dann war ich häufiger im Garten oder auf den Bäumen zu finden. Am liebsten saß ich dann hoch oben in den Kirschbäumen, stopfte die Kirschen in den Mund und übte mich im Kirschkern-Weitspucken. Eine Disziplin, die ich häufig mit den älteren Söhnen des Bauern Krampe, mit denen ich mich gut verstand, ausübte. Oder aber wir trieben uns in der Nähe des Pfarrhauses und der Femeiche herum und plünderten die Kastanienbäume. Das sah die Dorfjugend jedoch nicht so gerne, denn die betrachteten uns Kinder aus der Bauernschaft als ungebetene Konkurrenz, weil sie die Kastanien wegen ihrer Wohnnähe als ein dörfliches Eigentum ansahen.  

Auf dem Heimweg jagten wir dann beim Bauern Stegerhoff noch hinter dem Pfau her, immer in der Hoffnung, mal eine seiner wunderbaren Schwanzfedern zu erhaschen. Aber er war immer schneller als wir, und außerdem konnte er im Notfall noch fliegen. Doch nahmen wir zumeist schon Reißaus, wenn er bei unserer Verfolgung so durchdringend zu schreien begann, denn dann rechneten wir jederzeit mit dem Erscheinen des Bauern. So waren letztlich alle Federn, die wir erbeuteten, lediglich Fundstücke. Trotzdem zogen wir zufrieden nach Hause, denn die Taschen waren prall mit leckeren Kastanien gefüllt. Die fädelten wir dann an einem Zwirnfaden auf und hingen die etwa zwei Meter langen Kastanienketten in den Rauchfang über dem Küchenherd. Dort trockneten sie bis in den Winter hinein, schrumpelten zusammen und wurden zu einer süßen Delikatesse, die dann im Winter am bullernden Stubenofen bei Gespräch und Spiel aus der Schale gepult wurde.

Winterzeit war aber auch Krippenzeit auf dem Hof Oesing, für die schon früh die Vorbereitungen begannen. Schon im späten Herbst zog ich dann durch die Bauernschaft. Kroch durch Gehölze und Wälder auf der Suche nach schönen borkigen Baumrinden abgestorbener Bäume oder auch passenden Wurzelstrünken. Schön geformte Steine waren auch immer willkommen, ebenso Heidekraut, verschiedene Moose und Baumflechten. Für den Bedarf an verschiedenfarbigen Sanden mußte ich – wie ich aus Erfahrung wußte – den weiten Weg in die „Östrich“ nehmen, denn dort fand ich immer, was ich suchte. Kurz vor dem 1. Advent war es dann soweit, an der linken Seite der Wohnstube wurde dann auf einer großen Platte das Krippengelände mit den von mir zuvor gesammelten Materialien aufgebaut. Zunächst wurden kleine Tannen, Fichten und sonstiges Nadelgehölz für den Hintergrund aufgestellt. Dann errichteten wir in der sogenannten „Herrgottsecke“ auf einer leichten Geländeerhebung einen offenen Viehstall aus trockenem Astwerk, Wurzelstrünken und Baumrinde. Davor gestalteten wir dann aus den verschiedenen Sanden ein gewelltes Gelände, auf dem wir mit Heidekraut und Moos sowie Steinen eine kleine Landschaft zauberten. Dabei ließen wir einige Flächen und die durch das Gelände führenden Wege frei von Grün. Zum Schluß bauten wir dann noch auf einer der freien Sandflächen mit einer kleinen Lampe, rotem Kreppapier und Ofenschlacke ein kleines „Lagerfeuer“ für die Schafhirten.

War nach Tagen fleißiger Arbeit in den freien Abendstunden das Krippengelände fertig, schlug die Stunde der Bäuerin. Sie holte dann ihre Schätze an wunderbaren, recht bäuerlich wirkenden Krippenfiguren aus der großen Holztruhe, wo sie, säuberlich in Leinentücher gewickelt, das Jahr über wohlverwahrt gelagert waren. Zunächst wurden nur Ochs und Esel in die Nähe des Stalles gestellt, dann gesellten sich auf dem Gelände einige Hirten mit ihren Schafen dazu. Und je näher Weihnachten rückte, um so mehr Figuren bevölkerten das Krippengelände. Auch Maria und Josef näherten sich von der auf der linken Seite angedeuteten Stadt immer mehr dem Stall im rechten „Herrgottswinkel“. So näherte sich das Weihnachtsfest durch die bildhafte Veränderung auf dem Krippengelände auch für mich immer mehr. Dann war das Krippenbild vollständig; Maria und Josef umstanden eine Strohkrippe, in dem das Jesuskind lag und helles Licht strahlte aus dem Stall. Über dem Stall schwebte ein großer erleuchteter Stern mit einem Schweif, und in der Ferne sah man schon die Weisen aus dem Morgenlande, die heiligen drei Könige, heranziehen.

In der Bauernschaft war diese Krippe und auch ihre ständige, der Weihnachtsgeschichte zeitbezogen nachempfundene Darstellung bekannt, und so war es nicht verwunderlich, daß viele Frauen der umliegenden Gehöfte mit ihren Kindern in der Adventszeit zur Weihnachtskrippe auf den Hof kamen. Dann standen die Kinder stumm und staunend vor dem Krippengelände und konnten sich an den vielen wundersamen Dingen nicht satt genug sehen.

Vielleicht stammt aus dieser Zeit der kindlichen Erfahrung des Weihnachtsfestes auch meine noch heute ausgeprägte innere Beziehung zu Weihnachten. Denn Weihnachtszeit und Winterzeit, das sind auch noch heute meine bevorzugten Zeiten im Jahresverlauf. Und wenn der kalte Ostwind die Schneeflocken vor sich her blies und die Landschaft unter der weißen Schneefracht ihr Aussehen verändert hatte, dann zog ich gerne warm vermummt, ohne auf Wege zu achten, quer über Felder und Wiesen und durch die so geheimnisvoll stillen Wälder. Nur die zarten Wildspuren im Schnee waren mir dann stumme Begleiter in meiner „Märchenwelt“. 

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Meine Erstkommunion

Das Jahr 1945 hat gerade begonnen und zunehmend wird unser Leben durch den Krieg bestimmt. Die Erwachsenen sprechen jetzt häufiger über die Kämpfe bei Wesel und daß die Fronten immer näher rücken. Für uns Kinder wurden die Auswirkungen des Krieges erstmals richtig deutlich, als im Herbst des Jahres 1944 die Schulen wegen des Mangels an Heizmaterial und der ständigen Gefährdung durch Tieffliegerangriffe geschlossen wurden. Häufiger sind jetzt auch Soldatenkolonnen zu sehen, die über die Marienthaler Straße in Richtung Wesel ziehen, von wo immer deutlicher dumpfer Kanonendonner zu hören ist. Es heißt, dort werde um den Rheinübergang gekämpft. Die Familie Oesing ist in dieser Zeit sehr in Sorge um ihre beiden eingezogenen Söhne Johannes und Josef, von denen sie schon lange kein Lebenszeichen mehr erhalten haben. Allabendlich schließen wir sie in unsere Fürbitt-Gebete ein.

Und trotz der angespannten Situation bereiten sich die beiden dritten Schulklassen der Mädchen und Jungen, zu denen auch ich gehöre, in zusätzlichen Religionsstunden bei Pastor Grosfeld auf ihre Erstkommunion vor, die am Weißen Sonntag nach Ostern stattfinden soll. Die Bäuerin ist deshalb auch schon in großer Aufregung, denn sie macht sich Gedanken um meinen Kommunionanzug. So machen wir uns eines Tages vom Hof aus in Richtung Raesfeld auf den Weg, das etwa drei Kilometer entfernt liegt. Dort befindet sich das Textilgeschäft, das die Bäuerin traditionell bei solchen Gelegenheiten aufsucht. Heute bin ich der gegebene Anlaß, was mir höchst peinlich ist, vor allen Dingen das Maßnehmen. Es dauerte auch seine Zeit, bis die Stoffmeter in blauer Farbe für die Jacke und die Hose erstanden waren. Dazu kam dann noch ein weißes Oberhemd und beim Schuhmacher kräftige, hohe Schnürschuhe. Zwischendurch kehren wir noch in eine Gaststube ein, um uns ein wenig zu stärken. So vergeht der Tag wie im Fluge, und es war schon später Nachmittag als wir wieder zu Hause waren. Mit dem Einkauf des Stoffes war es aber noch nicht getan. Schon am nächsten Tag ging es zum Nachbarhaus Berger, in dem ein Schwesternpaar aus dem Dorf eine Nähstube betrieb. Dort wurde ich unter dem Gekicher der jungen Lehrlingsmädchen, die ich von der Schule her kannte, erneut von oben bis unten vermessen. Für die erforderlichen Anproben wollte man mir dann Bescheid geben. Ich war froh, als die ganze Prozedur dann endlich vorbei war.

Wir Kinder hatten durch den Schulausfall viel freie Zeit. Also stromerten wir in der Gegend herum, spielten Fußball oder beobachteten die jetzt immer häufiger über uns hinwegziehenden Bombergeschwader, die in Richtung Osten zum Ruhrgebiet flogen. Manchmal kam es auch zu wilden Luftkämpfen mit deutschen Jagdflugzeugen, doch das war immer seltener der Fall. Dafür waren aber vermehrt Raketen mit langen weißen Kondensstreifen am Himmel zu beobachten, die nach Westen flogen. Man erkannte sie schon von weither an ihrem dumpfen orgelnden Geräusch. Die Erwachsenen hatten auch einen Namen für diese Raketengeschosse, sie nannten sie V 1 oder V 2, und sie sagten, daß das riesige Bomben seien und daß sie nach England flögen. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, denn England war für mich unendlich weit entfernt.

So mehrten sich von Woche zu Woche die Zeichen des Krieges. Ständig wurden wir ermahnt, uns nicht allzuweit vom Haus zu entfernen. Der einzige kleine Kellerraum zwischen dem Wohntrakt und dem Kuhstall wurde nun vom Bauern mit hölzernen Stützbalken verstärkt. Außerdem stapelte er auf der Kellerdecke noch viele gefüllte Kornsäcke und schützte das winzige Kellerfenster außen noch mit einem dicken Erdwall. In dem Keller hielten wir uns aber weniger wegen der kriegerischen Ereignisse, sondern weit häufiger aus Anlaß starker Gewitter auf. Dann saßen wir dichtgedrängt zwischen langen Reihen von Gläsern mit Eingemachtem, Schütten und Fässern voller Obst, geselchtem Fleisch und Sauerkraut sowie goldglänzenden Käselaibern. Und die Bäuerin oder die Tante beteten dann diverse Rosenkränze bis zum allerletzten Donnergrollen.

Für den 23. März, einem Freitag, war für uns Kommunion-kinder wieder Unterricht angesagt. Und so blieben wir nach der allmorgendlichen Messe direkt in der Kirche sitzen und warteten auf Pastor Grosfeld. Der kam dann auch alsbald aus der Sakristei, nachdem er sich der Meßgewänder entledigt hatte. An den Unterrichtsstoff erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber daran, daß er uns schon nach gut einer Stunde, also vor Ablauf der üblichen zwei Unterrichtsstunden, mit einem Segensgruß nach Hause entließ. Das kam uns Kindern natürlich – wie immer bei solch unverhofften Freistunden – sehr gelegen. So zogen wir dann in gemächlichem Tempo in Richtung Overbeck. Hielten hier und dort noch einen kurzen Schwatz, denn uns drängte ja nichts. Plötzlich tauchten jedoch feindliche Jagdflugzeuge auf und die begannen, über dem Dorf Kreise zu fliegen. Nun war auch vom Dorf her Sirenengeheul und Maschinengewehrfeuer zu hören. Unterdessen hatte ich den Bauernhof erreicht, blieb aber draußen stehen und sah den Flugzeugen zu. Es waren wohl vier oder fünf. Auf einmal gingen sie nacheinander in einen Sturzflug in Richtung Dorfzentrum über. Ich starrte fasziniert nach oben und sah dann, wie sich unter jedem der Flugzeuge Bomben lösten. Dann hörte ich dumpfe Detonationen und über dem Dorf standen plötzlich große Rauchsäulen. Die Flugzeuge setzten ihre Angriffsflüge fort, und bald danach sah ich auch den Kirchturm lichterloh brennen.

Die alte Pfarrkirche "Sankt Silvester" zu Erle etwa um das Jahr 1920
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Was im Dorf nun genau passiert war, das erfuhren wir noch am selben Tag von einem unmittelbar von den Ereignissen betroffenen Gastwirtsehepaar aus Altenessen, das seit einiger Zeit in der Gaststätte Wilms im Dorfzentrum als ausgebombte Flüchtlinge Unterschlupf gefunden hatte. Sie hießen Johann und Hanni Düker. Nun baten sie auf dem Hof Oesing um eine vorläufige Bleibe, denn das Dorfzentrum sei stark zerstört, wie auch ihr bisheriges Domizil. Die Kirche sei schlimm zugerichtet. Das gesamte Kirchendach mit dem steinernen Kreuzgewölbe sei in den Kirchenraum gestürzt und der Kirchturm brenne. Hauptlehrer Sagemüller sei vor seinem Wohnhaus von einem Granat- oder Bombensplitter erschlagen worden, und noch eine weitere Person sei zu Tode gekommen. So der erste schaurige Bericht.

Ich mußte mit Schrecken daran denken, daß wir Kommunionkinder uns noch vor einer guten halben Stunde in der Kirche aufgehalten hatten. Da wurde mir doch ein wenig anders ums Herz, und ich war froh, daß ich größerem Unheil auf so glückliche Weise entgangen war. In der Folgezeit sprach man in diesem Zusammenhang dann oft von einem Wunder oder aber der Vorsehung Gottes, die Pastor Grosfeld veranlaßt hatte, uns früher als geplant nach Hause zu schicken. Am folgenden Tag sahen die Bäuerin und ich uns die Verwüstungen im Dorf selbst an. Von der Kirche standen nur noch die Außenmauern, und der Turm war bis auf einen kurzen Stumpf heruntergebrannt. Meterhoch lagen im Kirchenraum die Trümmer des Gewölbes und des Kirchendaches. Auch um die Kirche herum waren die Häuser größtenteils zerstört. So auch das Haus vom Schuster Gülker, in dem Onkel Bernhard und Tante Mariechen und bis vor gar nicht langer Zeit auch mein Bruder Hugo gewohnt hatten. Der war nämlich erst vor einigen Monaten nach Hause zurückgekehrt.

Dann gaben wir noch dem beim Angriff getöteten Hauptlehrer Sagemüller mit einem Gebet die letzte Ehre. Er war in seiner Wohnung aufgebahrt und sah, so wie er da mit einem dicken weißen Kopfverband lag, sehr friedlich aus. Ich hatte ihn bisher nur als Leiter der Schule kennengelernt, jedoch nicht als Lehrer, als welcher er aber bei den Schülern sehr beliebt gewesen sein soll. Er hatte sich auch als Heimatforscher und Mundartdichter des Erler Heimatliedes einen Namen gemacht. Und beides, die Ergebnisse seiner Forschungen und auch das Produkt seiner Dichtung, wurden uns schon früh in der Schule vermittelt.

Zurück zur Gegenwart! Schon in der dem Fliegerangriff folgenden Woche wurden das Dorf und die umliegenden Bauernschaften von den allierten Streitkräften der Engländer und Amerikaner eingenommen. Doch davon will ich in einer anderen Geschichte erzählen. Der Vorbereitungsunterricht für uns Kommunionkinder fand nun im Pfarrheim statt, das sich in einem Anbau des Pfarrhauses befand. Unser großer Tag, der 8. April 1945, rückte immer näher, und wir waren schon mächtig nervös. Dann war Weißer Sonntag. Schon früh am Morgen wurde ich aus dem Bett geholt. Große Wäsche, dann stieg ich in den schmucken blauen Kommunionanzug, Hemdkragen über den Jackenkragen gestülpt. Es fehlten nun nur noch die neuen von der Tante Christine aus Schafwolle gestrickten Kniestrümpfe und die hohen ledernen Schnürschuhe. Zum guten Schluß noch die Kommunionkerze und dann ging es gemeinsam mit der ebenfalls festlich gekleideten Bauernfamilie zu Fuß ins Dorf. Vom kleinen Dorfplatz aus, der mit Kirchenfahnen und Maibäumen (kleinen Birkenbäumchen) geschmückt war, wurden wir dann von der Gemeinde in festlicher Prozession, der Pastor mit vielen Meßdienern voran, durch die Kastanienallee zum Pfarrhaus geleitet, wo die Meßfeier ersatzweise stattfinden sollte.

Das alte Pfarrhaus mit Pfarrheim in Erle
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Natürlich waren Pfarrhaus und Pfarrheim viel zu klein, um alle Gläubigen aufnehmen zu können. So standen viele draußen vor den geöffneten Türen und Fenstern. Ich hatte zusammen mit anderen Kommunionkindern ausgerechnet im Schlafzimmer des Pastors meinen Platz gefunden. Das Bett war wohl zu diesem Anlaß besonders herausgeputzt worden. Laken, das dicke Oberbett und das Paradekissen strahlten in ihrem Weiß mit dem hellen Sonnenlicht, das durch die Fenster drang, um die Wette. Noch mehr aber waren wir – trotz der heiligen Handlung – von dem hölzernen Wandregal fasziniert, auf dem in Reih und Glied wohl ein halbes Dutzend wunderbarer, langstieliger Ton- und Porzellankopfpfeifen standen. Bestimmt waren die des Pastors ganzer Stolz. Gelegentlich hatten wir ihn ja auch, wenn wir uns an der Eiche oder in der Kastanienallee vor seinem Garten herumtrieben, auf der Gartenbank sitzend seine langen Pfeifen rauchen sehen. Doch zurück zur Meßfeier. Da passierte einem Mädchen nämlich ein großes Mißgeschick, und das ausgerechnet bei ihrer Erstkommunion. Ihr fiel in der drangvollen Enge oder aber vor lauter Nervosität die Hostie aus dem Mund. Das führte zu einer großen Aufregung, auch weil das Mädchen kaum zu beruhigen war, es weinte beständig.

Eine denkwürdige Feier, besonders wegen der außergewöhnlichen Begleitumstände. Doch gerade diese führten dazu, daß sich mir die Begebenheiten der Meßfeier und des gesamten Tages sehr tief eingeprägt haben. Zwar war die Zeit nicht für große Feiern geeignet, aber im erweiterten Familienkreis wurde der Tag doch als ein besonderer begangen. Das Essen war festlicher, man saß auch außerhalb der Mahlzeiten zusammen und machte bei dem herrlichen Wetter den obligatorischen Gang durch die anliegenden Felder.

Außergewöhnlich war nur die Fotoaktion vor dem Bauernhaus, denn die hatten wir nur dem Umstand zu verdanken, daß das Ehepaar Johann Düker seit kurzer Zeit auf unserem Hof weilte. Und „Onkel Johann“ schoß dann auch von mir vor dem Haus das Foto zum Tage. Ein wenig „hingestellt“ und mit skeptischem Blick, aber ansonsten doch – wie ich finde – recht fotogen.

Besonders glücklich war ich natürlich über den Besuch meines Vaters, der es in dieser verrückten Zeit irgendwie geschafft hatte, mit dem Fahrrad nach Erle zu kommen, um an der Kommunionfeier teilzunehmen. Bei all den zerstörten Verkehrswegen und den von den Besatzungsmächten verordneten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit kam das wirklich einem kleinen Wunder gleich.

Fürwahr eine verrückte Zeit für eine Erstkommunion, aber die Umstände kann man sich ja nicht aussuchen. So wurde die Feier ungewollt zum Beweis für das Beharrungsvermögen der Menschen, an christlichen Werten und deren Ausdrucksformen gerade in einer von Schrecknissen geprägten Zeit festzuhalten. Und das war gut so und richtig. Ebenso richtig wie unsere Dankbarkeit, daß wir das Chaos und die jahrelangen Gefährdungen bisher heil überstanden hatten.

Das Kommunionkind vor der Haustür des Bauern Oesing
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

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Frontverläufe

Noch vor einigen Wochen zogen lange Kolonnen müder und ausgemergelt aussehender Soldaten mit Maschinengewehren und Panzerfäusten, die sie geschultert hatten, in Richtung Westen nach Wesel. Es waren überwiegend alte Männer, aber auch ganz junge Gesichter waren darunter. Es hieß, das sei das letzte Aufgebot, der Volkssturm. Doch schon nach kurzer Zeit und mit dem näherrückenden Kanonendonner kehrte sich deren Marschrichtung um. Wir bekamen wieder Einquartierung.

Im kleinen Eichenwäldchen an der Westseite des Hofes lagerten bald dicht an dicht Soldaten in ihren Zelten. Überall stieß man auf militärisches Gerät. Es war ein wildes Durcheinander, ein Kommen und Gehen, wohl auch deshalb, weil im Wohnhaus ein Lazarett eingerichtet war. Ständig wurden auf kleinen Militärwagen aber auch auf von Pferden gezogenen Leiterwagen Verwundete gebracht, die hier unter recht primitiven Bedingungen ärztlich versorgt wurden.

Ich freundete mich in diesen Tagen ein wenig mit den Pferdebetreuern an, denn die waren beständig auf Futtersuche. Da hatte ich dann keine Bedenken, auch ohne die Erlaubnis des Bauern Hafer und Heu vom Vorratsboden zu holen und dieses den Soldaten zu geben. Manchmal wurde mir dafür auch ein Stückchen Schokolade geschenkt. Doch hatte ich den Eindruck, daß die Soldaten selbst Hunger litten, weil sie nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgt wurden.

Meistens schlürften sie aus ihren Kochgeschirren eine dünne Suppe und aßen dazu ein Stück Kommißbrot. Mir war während der Tage ein Kradmelder mit seiner Seitenwagenmaschine aufgefallen, der täglich mehrmals in Richtung Westen, ich denke zur nahen Front fuhr. Wenn ich es einrichten konnte, erwartete ich ihn schon vorne am Hoftor, das ich ihm dann weit aufhielt. Er grüßte dann immer mit einem freundlichen Lachen, und eines Tages hat er mich sogar das kurze Stück zum Hof im Seitenwagen mitfahren lassen. Ich war mächtig stolz, und seitdem zählte ich ihn zu meinen besten Freunden. Doch dann kam der Tag, an dem er von seiner Fahrt nicht mehr zurückkehrte. Ich habe lange auf ihn gewartet, aber vergebens. Am nächsten Tag saß ein anderer Soldat auf dem Motorrad, und da wußte ich, mein Freund wird nicht mehr wiederkommen.

Urplötzlich war dann der gesamte Spuk vorbei. Die Soldaten hatten unseren und auch die umliegenden Höfe geräumt und waren über die Marienthaler Straße in Richtung Dorf verschwunden. Es folgten einige gespenstische Tage, nur gelegentlich sah man ein Militärfahrzeug oder kleine Soldatentrupps. Die Bauernschaft wirkte seltsam ruhig und verlassen, obwohl jetzt des öfteren Granaten über uns hinweg heulten. Weit entfernt hörte man dann Detonationen. Die Familie rückte enger zusammen, und ich hatte auf Weisung der Bäuerin mein Nachtlager in deren Schlafzimmer aufgeschlagen. So wurde ich dann eines frühen Morgens, es war Mittwoch der 28. März 1945, von ihr aus tiefsten Träumen geweckt und, noch mit dem langen Nachthemd bekleidet, die große Wohnküche geschoben. Dort hatten sich schon alle anderen in ähnlichen Bekleidungen versammelt. Dann erst bemerkte ich die zwei riesengroßen schwarzen Soldaten in mir fremden Uniformen, die uns drohend fixierten und ihre Maschinengewehre auf uns richteten. Sie sprachen ständig auf uns ein, aber niemand von uns verstand auch nur ein Wort. 'Mein Gott', dachte ich, 'jetzt sind wir keine Deutschen mehr, sondern Amerikaner oder Engländer'. Just in dem Moment detonierten zwei Granaten etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt und die beiden Soldaten warfen sich auf den Boden der Küche, begleitet vom Scheppern der Maschinengewehre auf dem steinernen Bodenbelag. Alle anderen waren unbeeindruckt stehen geblieben, und ich ging zum Fenster, um nachzusehen. Die Soldaten rappelten sich wieder auf, lächelten ein wenig verlegen und redeten dann wieder auf uns ein. Doch wir verstanden sie nicht.

Nach einer kurzen Weile kam ein Offizier dazu, der ein wenig Deutsch sprach. Er fragte dann den Bauern sehr ausgiebig nach deutschen Soldaten aus, wo sie seien, wann sie den Hof verlassen hätten, und ob er etwa welche versteckt hätte. Offensichtlich war er mit den Antworten des Bauern zufrieden, denn schon bald bedeutete er uns, wir könnten uns frei bewegen, nur den Hof dürften wir nicht verlassen. So stromerte ich schon kurze Zeit später auf dem Hof zwischen all dem Neuen herum und konnte mich nicht satt sehen an den mir unbekannten Fahrzeugen und Gerätschaften. Doch auch ich war Objekt neugieriger Blicke. Von überall her redete man auf mich ein, aber ich konnte dazu nur hilflos lächeln, bis mich jemand in die Waschküche führte, die zwischen dem Wohntrakt und den Stallungen lag.

Dort standen – wie immer – die mit Milch gefüllten Stahlkannen. Jetzt allerdings in außergewöhnlich großer Menge, weil die Milch seit einiger Zeit nicht mehr an die Molkerei geliefert werden konnte. Selbst das tägliche Buttern und die Verarbeitung zu Käse ließen die Milchmenge nicht sehr viel kleiner werden. Und deshalb ging einiges wieder über das Futter für Kühe und Schweine in den Kreislauf zurück.

Als wir nun in der Waschküche standen, deutete der Soldat auf die Milchkannen, dann auf einen Blechnapf, den er in seinen Händen hielt und sah mich dabei fragend an. Ich begriff sofort, er wollte Milch haben. Ich überlegte nicht lange, ergriff die schwere Milchkanne und füllte den Blechnapf des Soldaten. Das war wohl das Signal für alle anderen. Im Nu hatte sich eine lange Schlange gebildet, und ich füllte Becher um Becher, bis mir die Arme schmerzten von dem Gewicht der Milchkannen. Ich bedeutete ihnen deshalb, sich selbst zu bedienen. Auch der Bauer, der zufällig die Aktion beobachtete, hatte nichts dagegen einzuwenden. Vielmehr hatte er selbst schon Soldaten, die er mit ihren Bechern unter den Kühen angetroffen hatte, auf die gefüllten Milchkannen verwiesen.

Meine Milchaktion jedoch sollte sich für mich in den nächsten Tagen als sehr vorteilhaft erweisen. Wo auch immer ich mich auf dem Hof blicken ließ, wurde mir Kaugummi oder Schokolade zugesteckt. Schnell hatte sich ein kleiner Vorrat angesammelt, und das sollte bald von Vorteil sein. Denn nach der ersten Welle von Soldaten folgte eine zweite. Und die waren von anderer Art. Da gab es keine Freundlichkeiten mehr, sondern nur noch knappe Befehle. Wir mußten alle Zimmer räumen und wurden unter Bewachung in den Keller verbannt. Selbst auf dem Weg zur Toilette wurden wir von einem Soldaten begleitet. Am schlimmsten jedoch war, ganz besonders für den Bauern, daß dieser sein Vieh weder füttern noch die Kühe melken durfte. Bald schon brüllten die Kühe Tag und Nacht vor Schmerzen, weil ihre Euter prall waren von der Milch, und die hilflosen Versuche einiger Soldaten, sie zu melken, konnten auch keine Abhilfe schaffen.

Am zweiten Tag hielt es der Bauer einfach nicht mehr im Keller aus. Er stieg die Treppe hoch, ging am wachhabenden Soldaten vorbei in den Kuhstall, schnappte sich einen Eimer und einen Melkschemel und setzte sich unter die erste Kuh. Und siehe da, es geschah nichts, der Wachsoldat griff nicht ein. – Das war Ostern 1945: im Keller, ohne traditionelles Osterfeuer am Karsamstag und festliches Glockengeläut.

Dann kam der Tag, an dem wir den Hof verlassen mußten und beim Nachbarn Niehus (Ebbing), dem Schmid der Bauernschaft, untergebracht wurden. Im Gegensatz zu den anderen fand ich den Umzug zum Nachbarn wunderbar, denn hier hatte ich eine Menge Spielkameraden. Auch durften wir uns auf dem Hofgelände frei bewegen. Und der Bauer hatte die Erlaubnis, das Vieh auf seinem Hof zu versorgen. 

Von diesem Hof aus, der unmittelbar an der Marienthaler Straße lag, konnten wir auch gut das Geschehen auf der Straße beobachten. In ununterbrochener Folge dröhnten hier Jeeps, Lkw's, Geschützfahrzeuge und schwere Panzer vorbei. Immer in Richtung zum Dorf. Was dort und in der weitläufigen Bauernschaft inzwischen alles geschehen war, das wußten wir nicht, da wir ja den Hofbereich nicht verlassen durften. Und da es andere Nachrichtenmittel nicht gab, waren wir von jeglicher Information abgeschnitten.

Nach einer Woche hatten sich die Soldaten von den Höfen zurückgezogen und wir durften wieder auf unseren Hof zurück. Nun gab es nur noch eine sogenannte „Besatzungseinheit“, die in der nahegelegenen ehemaligen deutschen Flakstellung untergebracht war.

Bei unserer Rückkehr auf den Hof erwartete uns ein unbeschreibliches Chaos. Alle Zimmer waren verwüstet und verdreckt. Der Inhalt von Schränken und Truhen lag überall im Haus verstreut. Säcke voller Korn und Mehl hatte man darüber entleert. Auch waren alle Vorratsräume geplündert. Weinend lief die Bäuerin von Zimmer zu Zimmer und versuchte verzweifelt, noch etwas zu retten. Das war nach all den Sorgen, Mühen und Ängsten der letzten Monate wohl die schlimmste Erfahrung für die Bauersleute.

Später erzählte man sich, daß die zweite Welle der Frontsoldaten entlassene Strafgefangene gewesen sein sollen, denen man wegen des Kriegsdienstes ihre Strafen erlassen habe. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen läßt sich wohl nicht beweisen, richtig aber ist, daß die menschlichen Verhaltensweisen dieser beiden ersten Wellen der Kampfverbände fast gegensätzlicher Natur waren, und das – wie man hörte – nicht nur in Einzelfällen, sondern ganz generell.

Zwei schlimme Monate hatten wir nun überstanden und alle sind noch wie betäubt von den Ereignissen. Doch es keimt auch Hoffnung, die von Gerüchten über ein baldiges Ende des Krieges genährt wird. Mitte Mai ist es dann soweit. Alle sprechen von Kapitulation. Und die Erwachsenen sagen: 'Nun ist der Krieg vorbei und es herrscht wieder Frieden'.

Doch bis alles wieder in den alten Bahnen verläuft, vergehen noch viele Monate. Denn plötzlich werden die vielen Fremdarbeiter, die vor Jahren zu Zwangsdiensten nach Deutschland verschleppt worden waren, zu einem Problem. In den Sammellagern, in denen sie für den Rücktransport in ihre Heimatländer zusammengefaßt sind, werden sie wohl nicht ausreichend versorgt. Denn immer wieder hört man davon, daß Gruppen von ihnen durch die Bauernschaften ziehen, Menschen bedrohen und die Höfe ausplündern. Und dieser Bedrohung sind die Menschen schutzlos ausgeliefert, denn eine Polizei gibt es nicht mehr oder noch nicht, und Wehrmachtspatrouillen sind nur selten zu sehen. Aber man hörte auch, daß die Höfe verschont wurden, auf denen die Fremdarbeiter gut behandelt worden waren. So wie das für unseren Hof galt, der deshalb nur ein einziges Mal von einer solchen, sich friedlich verhaltenden Gruppe behelligt wurde.

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Schule und Jugend

Die Jahre gehen ins Land. Längst hat der Alltag wieder von den Menschen Besitz ergriffen. Die Bauern gehen in gewohnter Weise ihren täglichen Verpflichtungen in Hof und Feld nach. Auch auf dem Anwesen des Bauern Oesing geht weitgehend alles seinen üblichen Gang. Hier gab es jedoch noch einen Grund zu großer Freude. Der älteste Sohn Johannes, der während des Krieges zuletzt bei der Marine gedient hatte, kehrte bald nach Kriegsschluß unversehrt heim. Trauer herrscht allerdings noch um den Sohn Josef, denn der ist in Rußland als vermißt gemeldet.

Der Johannes, den ich ja noch nicht kannte, ist ein netter, ruhiger, junger Mann, mit dem ich gut auskomme. Er versteht sein Bauernhandwerk. Auch er hat eine Vorliebe für Pferde, so wie ich. Und deshalb bin ich auch zumeist in seiner Nähe zu finden. Mit der Zeit bringt er mir auch ein wenig das Reiten bei, obwohl das auf einem Kaltblut, wie es Arbeitspferde auf einem Bauernhof gewöhnlich sind, nicht ganz einfach ist. Erst recht nicht ohne Reitsattel, denn so etwas gibt es auf dem Hof nicht. Auch ist er mir dabei behilflich, aus Einzelteilen alter Fahrräder ein gebrauchstüchtiges zusammenzubasteln. Nur Schläuche und Mäntel, die waren nirgendwo aufzutreiben. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, auf dem Fahrweg vor dem Haus fleißig zu üben, denn das ging auch auf blanken Felgen. Aber bis ich fahren konnte, habe ich noch so manchen Sturz gebaut. Zum Glück verliefen die alle glimpflich, denn zu beiden Seiten des Weges war eine Wiese. Da fiel ich dann verhältnismäßig weich. Meinen ersten ernsthaften Fahrversuch auf einer Schotterstraße nahmen mir die Fahrradfelgen jedoch übel. Sie brachen und ich landete recht unsanft auf der Straße. 

Der Autor in seinen jungen Jahren auf seinem Lieblingspferd "Fanni", daneben deren Nachwuchs. Rechts der Bauer Oesing und dessen Sohn Johannes als Pferdehalter.
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

Im Herbst des Jahres 1945 beginnt für uns Kinder wieder der Ernst des Lebens. Die Schule ruft zum Unterricht. Beide Schulgebäude waren zwar bei der Bombardierung des Dorfes beschädigt worden, die „Kleine Schule“ sogar wesentlich, doch konnten die Schäden an der „Großen Schule“ recht zügig, die der „Kleinen Schule“ dagegen erst 1949 behoben werden, was zu einem gravierenden Engpaß führte.

Erstaunt mußte ich im Unterricht feststellen, wieviel ich in der kurzen Zeit der zwangsweisen Schulpause vergessen und verlernt hatte. Hinzu kam, daß wir einige neue Lehrer hatten, und so fingen wir in manchen Fächern wieder von vorne an. Ein Umstand, der mir bei meinem späteren Schulwechsel zur Städtischen Handelsschule noch viel zu schaffen machen sollte. Denn natürlich konnte der gesamte Lehrstoff in der Restschulzeit nicht mehr vermittelt werden, auch wenn sich unser Klassenlehrer, der Lehrer Otto Kreuter, der ein netter, ruhiger Mann und ganz bestimmt wohl auch ein guter Pädagoge war, sich nach Kräften bemühte. Er verstand es immer wieder, trotz der räumlichen Enge, den Unterricht recht abwechslungsreich und interessant zu gestalten, so daß wir immer – soweit Kinder dazu überhaupt in der Lage sind – aufmerksam seinen Unterweisungen folgten. Ganz besonders, wenn Heimatkunde oder Zeichenstunde angesagt waren und wir dann häufig zur mächtigen Eiche zogen, um dort etwas über deren Geschichte zu hören oder aber sie zu zeichnen. Dann lagen wir in einiger Entfernung von ihr in der Wiese und jeder versuchte so gut er konnte, die mächtige und urtümliche Knorrigkeit des Baumes mit der ausladenden Krone auf den Block zu bannen. Ich war bei meinen Versuchen immer so sehr in das Licht- und Schattenspiel des Stammes verliebt, daß ich nach der Zeichenstunde oft nur einen ganz kleinen Ausschnitt des Baumes gezeichnet hatte. Statt das Ganze zu sehen, sah ich nur das Detail, ein Umstand, der wohl typisch für einen schlechten Zeichner ist. Gleichwohl liebte ich diese Zeichenstunden sehr, wohl auch, weil sie in der freien Natur stattfanden.

Zwischen dem Lehrer Kreuter und mir hatte sich über die Jahre hin ein sehr angenehmes und recht entspanntes Verhältnis entwickelt. Das beruhte wohl zum einen darauf, daß ich – nach eigener, nicht gerade objektiver Einschätzung – wohl ein unkomplizierter, sehr lernbegieriger Schüler war, dem die Schule Spaß und das Lernen keine großen Schwierigkeiten machten. Zum anderen aber wohl auch auf die wöchentlichen Kurzbesuche des Lehrers bei meinen „Pflegeeltern“. Jeden Freitagabend, just zur Essenszeit, kam er auf dem Fahrrad angeradelt, begrüßte alle freundlich und ließ sich dann von der Bäuerin in die Wohnstube führen. Dort wurde ihm dann aufgetischt: Reibepfannekuchen, die es jeden Freitag gab, und reichlich frische kühle Milch. Währenddessen nahmen wir unser Essen – wie üblich – nebenan in der großen Wohnküche ein.

Nach einer guten Stunde machte er sich dann wieder auf den Heimweg, nicht ohne sich von mir mit einem freundlichen Klaps auf die Schulter und den Worten: „Na dann bis morgen, Gerd“, zu verabschieden. Natürlich steckte ihm die Bäuerin immer noch ein kleines Päckchen mit Lebensmitteln und wohl auch Pfannekuchen für seine Lieben daheim zu. Denn die Zeiten waren schwer, besonders für Menschen, die nicht die Möglichkeit hatten, sich mit Eigenprodukten zu versorgen. Diese so selbstverständlich gewährte Unterstützung der notleidenden Dorfbevölkerung durch die Bauern war sicher auch ein Ausdruck der noch intakten Nachbarschaftshilfe, die in den dörflichen Regionen auch in ganz normalen Zeiten, wie z. B. bei Pferde-Spanndiensten und Erkrankungen im Nachbarschaftsbereich, geübt wurde.

Die häufigen „Besuche“ meines Lehrers auf dem Bauernhof brachten mir jedoch keinerlei Vorteile. Ich glaube, das hätte er auch nicht gekonnt, denn er war ein geradliniger Mann, der jeden Schüler gleichermaßen behandelte, ohne jemand zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Stets zeigte er auch Verständnis für unsere kleinen und großen Sorgen. Ganz im Gegensatz zu einem anderen Lehrer, der eher ein Vertreter der alten und harten Linie war und mit Vorliebe und bei jeder sich bietenden Gelegenheit von seinem Züchtigungsrecht mit dem Rohrstock Gebrauch machte. Ein Verhalten, dem wir drei körperlich größten Jungen in späteren Jahren einmal dadurch Einhalt geboten, daß wir uns ihm bei einer erneut drohenden, uns ungerecht erscheinenden Strafaktion wortlos und mit furchtlosem Blick in den Weg stellten.

Doch zurück zu angenehmeren Dingen. In der Schule hatte ich mich über die Jahre mit vielen Jungen angefreundet. Und so war es nur natürlich, daß ich meine Freizeit vorwiegend mit ihnen verbrachte, vor allen Dingen an den Wochenenden. Herumstromern, Baden gehen oder Fußball spielen, das waren unsere bevorzugten Beschäftigungen. Erst in den letzten Schuljahren kam dann ein weiteres Interessengebiet hinzu, nämlich erste zaghafte Flirtversuche mit Mädchen. Im Grunde aber spielten die Mädchen für unser Freizeitverhalten keine große Rolle, wohl auch deshalb nicht, weil die Spielinteressen so unterschiedlich und sowohl die Schulklassen als auch die Pausenhöfe voneinander getrennt waren. So bildeten sich Freundschaften vorwiegend nur unter Jungen oder nur unter Mädchen aus.

Doch das alles wird bald Vergangenheit für mich sein, denn es gilt, Abschied zu nehmen von der Schule und von den Freunden. Das Jahr 1950 hat begonnen, und im Frühjahr werde ich zu meinen Eltern nach Gladbeck zurückkehren, um dort die Städtische Handelsschule zu besuchen. Eine Zeit recht zwiespältiger Gefühle beginnt nun für mich. Einerseits freue ich mich darauf, bald wieder zu Hause zu sein, andererseits bin ich traurig, Erle, die Schulkameraden und die liebevollen Pflegeeltern zu verlassen. Für mich ist dieses Dorf mit seinen Menschen Heimat geworden, oder besser, von Anfang an Heimat gewesen, denn es war ja die Heimat meines Vaters und seiner Ahnen. Doch letztlich geben die Planungen meiner Eltern aber auch meine Neugier auf das (neue) Leben in der alten Umgebung den Ausschlag.

Vieles an Freundschaften und lieben Erinnerungen wird dann wohl verloren gehen. Auch Namen und Gesichter der Mitschüler der achten Klasse, mit denen ich eine so lange und schöne Zeit meiner Kindheit verbracht habe, werden verblassen. Deshalb will ich sie mit ihren Namen hier festhalten, um meiner späteren Erinnerung eine Hilfe zu geben: 

Maria Blotenkamp, Christel Bollenberg, Elisabeth Ebbert, Maria Ebbing, Waltraud Gehrke, Maria Grewing, Maria Grömping, Änne Heßling, Christel Höing, Anneliese Kölking, Luise Lammersmann, Elli Leiers, Ursula Pelz, Klara Vennhoff. Herbert Beckmann, Ludwig Demmer, Alfons Elvermann, Willi Gördes, Willi Groschinski, Heinz Grönninger, Johannes Große-Boes, Josef Große-Holtfort, Heinz Heidermann, Johannes Heidermann, Ernst Hörnemann, Ludwig Hörnemann, Josef Horstmann, Klaus Huschka, Heinz Kerkhoff, Bernhard Kleerbaum, Alois Kuhlmann, Willi Lagermann, Hubert Menting, Hermann Nienhaus, Ewald Overkämping, Josef Paus, Johannes Rößmann, Silvester Schluck, Ludwig Schwering, Leo Wachtmeister.

Keiner Erinnerungsstütze bedarf es jedoch, mir der liebe- und verständnisvollen Fürsorge bewußt zu sein, die ich bei meinen „Pflegeeltern“ erfahren habe. Schon früh in den Jahren waren mir deshalb die Bauersleut nicht mehr nur „Tante“ und „Onkel“, sondern „Mama“ und „Papa“. Für mich war es ganz selbstverständlich, sie so zu nennen, weil ich von ihnen wie ein eigener Sohn behandelt wurde und jegliche Zuwendung erfuhr. Auch alle anderen Familienmitglieder waren mir gut gesonnen, angefangen von der Tante Christine über den Sohn Johannes und die Tochter Maria. Komplettiert wurde das gute Umfeld durch das Ehepaar Düker mit ihrem etwas „weltoffeneren Horizont“. Mit ihrer differenzierenden Betrachtung mancher Verhaltensmuster und Ansichten trugen sie sicher dazu bei, daß sich auch bei mir die Fähigkeit entwickelte, Umwelt und Menschen bewußter aber auch kritischer wahrzunehmen und Schlüsse zu ziehen. So habe ich in meiner Kindheit auf dem Lande in vielfacher Weise wertvolle Erfahrungen sammeln, aber vor allen Dingen Freundschaft und Zuwendung erfahren können.

Das Schulabschlußbild des Autors.
Foto aus dem Privatbesitz Gerd Buskamp,
mit freundlicher Genehmigung

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Abschied von den Erinnerungen

Nun sitze ich wieder im Wagen und fahre langsam über die Marienthaler Straße aus der Bauernschaft heraus in Richtung Dorf. Ein letzter Blick streift über die verstreut liegenden Gehöfte, die für eine lange Zeit der Gedankenreise wieder die vertrauten Plätze meiner Kindheit waren, und die so vieles wieder haben aufleben lassen bei meinem Erinnern.

Links und rechts gleiten die Höfe an meinem Auge vorbei. Rechts Berger und Ebbert, gegenüber Ebbing, dann Jütten, Linneweber und Lütten zur Linken. Gegenüber das Gebäude der alten Molkerei und der kleine Gasthof Wilms. Dann lasse ich auch die Höfe Wissing, Stegerhoff, Kuhlmann und Askamp auf der linken Straßenseite hinter mir. Ich biege von der Marienthaler Straße nach links ab und fahre durch neue Siedlungen im Dorfbereich. Zu meiner Linken jedoch steht noch immer das niedliche Fachwerkhaus unter den großen Bäumen, in dem einst Tante Mariechen und Onkel Bernhard mit ihrer Tochter Marianne lebten. Ich hatte es gar nicht so klein in meiner Erinnerung.

Die jetzt asphaltierten Straßen lassen nur schwer die alten Feldwege und heckenumsäumten schmalen Pfade erahnen, auf denen wir früher tagtäglich unterwegs waren. Nur wenige der alten Häuser sind noch erhalten. Zu meiner Rechten breitet sich nun das Gelände des Pfarrhauses mit dem großen Gartengelände aus. Mein Blick sucht ein letztes Mal die Kastanienallee und dahinter die knorrigen Reste der uralten „Femeiche“. Noch einmal umfahre ich das Dorfzentrum, die Kirche ständig im Blick. Stolz reckt sich ihr wiedererstandener Turm in den noch immer blauen Frühlingshimmel und kündet von zeitloser, friedvoller Botschaft, weit in eine stille, münsterländische Landschaft hinein, die mir Heimat war.

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Eine Reise zu den Erinnerungen...

Sie ist es wert, häufiger gemacht zu werden!



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Das Erler Heimatlied

Tüsken dicken Ekenknorren,
Tüsken Busch un Sump un Sand
Ligg uis stille Heededörpken
Erle – witt und bret bekannt.

Do geww't wennig rieke Löije,
Denn de Felder sünd bar Sand,
Doch in jedem Hus wonnt Tröije;
Un, we flietig, nährt dat Land.

Weltbekannt is uise Eke,
De oll öwwer dusend Johr;
Gäste heww se olle Weke
Mehr es hundert – dat is wohr.

Doch de Ek heww grote Lücken
In de Krone, in den Stamm,
Dorum goffen wie ehr Krücken,
Un so steht se troj und stramm.

Un so fest wie uise Eke
Sünd hierlands bold olle Luij.
Schlechte findest du nich fäke,
Dörweggs sünd de uprecht, troij.

Sünd de olt, dann nemmt se Stütten,
Doch de Trüij bliww stark und grot,
Schwack un olt weart blos de Bütten
Wie bliwwt tröij bis in den Dot! ...
Text: Hauptlehrer Fritz Sagemüller