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Wer auf der Schermbecker Straße unterwegs ist und Richtung Süden fährt, der wird sich vielleicht schon mal gewundert haben, warum gerade hier auf der ansonsten baum- und strauchlosen Acker- und Wiesenebene, über die schon seit jeher ein für die nicht weit entfernte Windmühle nötige Wind weht, ein kleines, von einer Hecke umsäumtes Wäldchen stehen geblieben ist. Wer als Ortsfremder hier vorbei fährt oder wandert würde den Grund dafür auch nur erfahren, wenn er durch das kleine Tor an der Spitze des Grundstückes treten täte. Um das zu ändern hat der Erler Heimatverein im Jahre 2008 eine ihrer vielen Infotafeln dort aufgestellt.

Die Erler wissen es natürlich besser. Es handelt sich hierbei um den jüdischen Friedhof des Dorfes. Genauer gesagt ist es der Friedhof der Familie Cahn. Diese erwarb das, wie damals wohl üblich, vom Dorfkern etwas abseits gelegene, dreieckige, rund 240m² große Grundstück im Jahre 1842. Von 1843 bis zum Jahre 1933 wurden hier elf Angehörige der Familie Cahn beerdigt. In der NS-Zeit wurde dieser kleine Friedhof in Ruhe gelassen, er wurde weder geschändet noch zerstört.

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Ansicht vom Dorf aus, Blickrichtung Turmwindmühle.
Foto: Reinhard G. Nießing, mit freundlicher Genehmigung


Friedhofstor mit Informationstafel des Heimatvereins.
Foto: Reinhard G. Nießing, mit freundlicher Genehmigung
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1938 gelangte das Grundstück in Privatbesitz und wurde von der damaligen Gemeinde Erle 1963 käuflich erworben. Seitdem wird der Friedhof durch Mitarbeiter der Gemeinde gepflegt. Heute findet man unter den hohen Eichen eine schlichte, schwarze Marmorgrabplatte, hergestellt vom Steinmetzmeister Löchteken aus Raesfeld. Sie ist vertikal auf einem kleinen Podest angeordnet und auf ihr ist der Davidstern und der Text "Ruhestätte Familie Cahn" eingemeißelt. Links und rechts neben diesem Grabdenkmal liegen jeweils zwei, der jüdischen Tradition entsprechend schlicht gehaltene ungekennzeichnete und undatierte Gräber. Es ist nicht überliefert, wer genau von der Familie Cahn darin bestattet ist.

 


Foto: Lisa-Marie Kleerbaum, mit freundlicher Genehmigung


Das jüdische Dorfleben in Erle beschränkte sich, soweit bekannt, auf das der Familie Cahn. Das in Westfalen und im Münsterland speziell, im Gegensatz zum Rheinland, relativ wenige jüdische Familien lebten lag u.a. an der im Zusammenhang mit der Pest stehenden europaweiten Judenverfolgung 1348-1352 und der Niederschlagung des Wiedertäufertums 1535 und den darauffolgenden antisemitischen Gesetzen. Einige wenige Juden verblieben hier im Untergrund und begaben sich unter den Schutz einiger heimischer Adelshäuser. Überliefert ist hier z.B. die Geschichte des jüdischen Ehepaares Joest und Anna, um die sich Bernhard von Westerholt und Goswin von Raesfeld von 1575 bis 1581 einen erbitterten Streit darum lieferten, wer von beiden dem Paar den finanziell lukrativen Schutz bieten durfte, obwohl sämtliche Gesetze das das Unterschutzstellen verboten hatten.

Im Jahre 1823 siedelte sich dann das jüdische Ehepaar Moises Herz Cohen, aus Grevenbroich kommend,  und Sophia Herz aus Werne in unserem Dorf an, das damals rund 670 Einwohner hatte. 1824 wurde der erste Sohn, Moises geboren, gefolgt von den drei Brüdern Herz (1827), David (1829) und Samuel Moises (1833). 1847 nahm die Familie dann den Nachnamen Cahn an, eine Variante des Familiennamens Cohen. Der Erler Heimatforscher Heinrich Lammersmann berichtete aus den Erinnerungen seines Großvaters, das Herz Cahn 1872 in Erle bei Lösch- und Rettungsarbeiten bei dem Brand der Häuser Wolberg, Heidermann und Böckenhoff ums Leben gekommen ist. Der Enkel, Levi Cahn und seine Frau Caroline wohnten um 1930 herum mitten im Dorf. Das Haus, mit der damaligen Adresse "Westrich 17 1/2" ist trotz des verheerenden Bombenangriffs auf das Dorf im 2. Weltkrieg erhalten geblieben und steht auch heute noch. Es ist das Haus hinter der der ehemaligen Bäckerei Hessling-Funke, das vor einiger Zeit wieder durch den Neubau der alten Lotto-Annahmestelle verdeckt wurde.

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Blickrichtung Westrich.
Foto: Reinhard G. Nießing, mit freundlicher Genehmigung


Grabstein der Familie Cahn.
Foto: Reinhard G. Nießing, mit freundlicher Genehmigung
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Levi und Caroline Cahn hatten zusammen zwei Töchter, Else (geb. 1904) und Erna. Aus erster Ehe stammte die älteste Tochter Adele und der Sohn Willi, der im bereits als Kind verstarb. Weiterhin wohnten noch Emma und Jettchen Cahn, die beiden unverheirateten Schwestern von Levi Cahn in ihren Jugendjahren in Erle bei ihrer Familie. Levi Cahn führte ein kleines Textil- und Kurzwarenladengeschäft, in dem es auch Süßigkeiten zu kaufen gab und waren im Dorfleben ganz normal und fest integriert. So schreibt Frau Dr. Elisabeth Schwane in einem Artikel im Heimatkalender des Jahrs 2000: "Die einzige jüdische Familie in Erle fühlte sich im Dorf zugehörig, bei aller Distanz, die es wegen des Glaubens und den unterschiedlichen Lebensgewohnheiten auch gab. Sie war fest in Nachbarschaft und Gemeindeleben eingebunden. [...] Levi Cahn war im Kriegerverein, wahrscheinlich also Soldat im 1. Weltkrieg; er wurde im März 1933 mit der Kriegervereinsfahne beerdigt. Daß Cahns im guten Einvernehmen mit den Nachbarn lebten, zeigt sich auch in einem Brief Ernas nach ihrer Abreise. Sie ließ Grüße ausrichten an alle Bekannten und Nachbarn, besonders aber an Tante Fina (Nienhaus), Drosten, Johanna und Franz, sowie auch an Funkes. Die Nachbarn halfen der Familie am Sabbat auch im Haus aus. [...] Trotz all dem war die Zeit des Nationalsozialismus für die Famile Cahn auch in Erle eine Zeit der Gefahr und des Versteckens. Frau Dr. Elisabeth Schwane: "Schon wer mit ihr [Else] sprach, fürchtete, angeprangert zu werden. Die Kunden ihres kleinen Kurzwarengeschäfts wurden weniger, die nachbarlichen Kontakte versteckter. [...] Eine Bekannte, deren Mutter als Nachbarin für Cahns am Sabbat Feuer anzündete und Licht machte, hat mir erzählt, dassauch diese von Erlern und beschimpft und bedroht wurden."

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Grabstein der hier beerdigten vier Familienmitglieder Cahn.
Foto: Reinhard G. Nießing, mit freundlicher Genehmigung


Familie Cahn hinter ihrem Erler Haus, ca. 1930 *)
Quelle Sammlung Reinhard G. Nießing, mit freundlicher Genehmigungg
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1921 heiratete Adele und zog danach aus Erle fort. Sie überlebte den Nationalsozialismus versteckt am Niederrhein in Alpen. 1933 starb der Familienpatriarch Levi Cahn, seine Frau Caroline 1939/40. Die Tochter Erna heiratete und wanderte mit ihrem Mann 1938 nach Südafrika aus. Im selben Jahr heiratete auch Else Cahn Hugo Schönbach und zog zu ihm ins Nachbardorf Schermbeck. Sie nahm ihre mittlerweile pflegebedürftige Mutter zur Pflege zu sich. 1940 verkaufte die Familie dann ihr Haus in Erle. Else und Hugo bekamen kurz danach ihr Kind Mirijam. Die kleine Familie wurde am 11.12.1941 nach Riga deportiert und dort verliert sich ihre Spur endgültig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sind Else, Hugo und die kleine Mirijam dort oder in einem KZ ermordet worden. Die beiden unverheirateten Schwestern von Levi Cahn, Emma und Jettchen sind nach Essen-Borbeck gezogen und wurden am 21.01.1942 zuerst nach ins KZ Theresienstadt und dann am 21.09.1942 ins KZ Treblinka deportiert, wo sie ermordet wurden.

Stellvertretend für die Familie Cahn ist auf Wunsch des "Dorstener Dokumentationszentrums für jüdische Geschichte und Religion" in Erle eine Straße nach Else Cahn benannt worden, der Else-Cahn-Weg. Ein bescheidenes Zeichen dafür, dass die Familie Cahn 114 Jahre zu uns Erlern gehörte, aber auch ein ständiges Mahnmal gegen das Vergessen.

Der Kölner Bildhauer Gunter Demnig erinnert mit seinem bundesweiten Projekt "Stolpersteine" an jüdische Mitbürger, die in der NS-Zeit aus ihren Häusern heraus verschleppt und ermordet wurden. An die beiden Erler Emma und Jettchen Cahn erinnern solche Stolpersteine vor ihrem letzten Wohnsitz in Essen-Borbeck.
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"Stolpersteine" in Essen-Borbeck vor dem Haus Nr. 240 in der Haus-Berge-Straße.
Foto: Michael Kleerbaum

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*) Familie Cahn im Hofe ihres Hauses in Erle 1930: sitzend Caroline Cahn, stehend von rechts Levi Cahn, Emma Cahn, Else Cahn und Jettchen Cahn.

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Thematische Links: 
International Jewish Cemetery Project
Das Projekt Stolpersteine
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Quellen:
[1]

Dr. Elisabeth Schwane: Erinnerungen an Else Cahn, Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, 2000, Seite 123ff.

[2]

Diethard Aschdorff: Zur älteren Geschichte der Juden in der Herrlichkeit, Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, 1984, Seite 141ff.

[3]

Heinrich Lammersmann: Die Kannune, Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, 1929, Seite 73ff:  .

[4]

Holger Steffe, Dorstener Zeitung, Lokalteil Erle, Artikel: "Vier Gräber auf dem jüdischen Friedhof", Ausgabe Nr. 298, 22.12.1990