von Michael Kleerbaum
51°44’47’’Nord,
6°51’56’’ Süd. Dem Postboten besser bekannt als Silvesterstraße 5, den
älteren Erlern als „die alte Schule“ oder „der alte Polizeiposten“, der
jüngeren Generation einfach nur als „Frau Dickers altes Haus“ und die
heutigen Kinder und Grundschüler kennen es als Heimathaus. Was sich
heute als umfangreich saniertes, schmuckes und teilweise auch etwas
steril wirkendes Gebäude mit einem sehr gepflegten Garten darstellt,
war zu meiner Kindheit Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre für
die Kinder des Schulhofes und des Kirchhofes der Abenteuerspielplatz
schlechthin. Es war der Traum vieler kleiner Erler und das Ganze wurde
obendrein noch von jemandem bewohnt, der mit diesen Kindern gut freund
war. Diese Person hatte viele Namen: „Oma Dicker“, „Tante Dicker“,
„Frau Dicker“, sie ließ alles gelten und regierte gutmütig und mit
einer spürbaren Herzensgüte ihr kleines, verwunschenes Reich.
Nachmittags, wenn der Schulhof zum Spielplatz wurde, war sie nach einem
Sturz die erste Anlaufstelle und hatte immer tröstende Worte und ein
Pflaster parat.
Aber auch Generationen von den
restlichen Erler Grundschülern war Frau Dicker nicht unbekannt.
Schließlich stand ihr kleines Häuschen mit einem tollen Garten auf dem
Schulhofgelände der Silvestergrundschule und ihre Garage lag
kurioserweise nicht der Straße zugewandt, sondern dem Schulhof. Und
außer der Feuerwehr und dem Hausmeister besaß nur Frau Dicker den
Schlüssel für den Poller. Während des Unterrichts konnte man sie fast
täglich mit ihrem damals himmelblauen VW Käfer über den Schulhof auf
dem Weg zur Straße fahren sehen. Die Erwachsenen kannten Frau Dicker
natürlich auch, sie wohnte immerhin 53 Jahre in diesem markanten Haus
und half noch bis ins hohe Alter in der Dorfwirtschaft Brömmel-Wilms
hin und wieder als Bedienung aus. Man konnte Frau Dicker fast jeden Tag
bei ihren Spaziergängen rund ums Dorf treffen, ihr Markenzeichen waren
die toupierten Haare, die dicken Knopfohrringe und sie war immer und
überall elegant gekleidet. Ihre unnachahmlich klingenden VW
Käfer-Modelle kannte man sowieso. Einige von uns Kinder haben sie näher
kennen gelernt und ich war einer von diesen. Immer, wenn ich heute an
diesem Haus vorbeifahre, muss ich an die Zeit von vor fast 30 Jahren
denken, als der Schulhof noch das Zentrum meines kleinen Universums war.
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Frau Dickers Haus vor der Grundsanierung |
Hier wurde der wunderbare Garten schon beseitigt. Foto: Hans-Dieter Dicker |
Wenn man im Sommer in der
brütenden Hitze, die über dem Asphalt des Schulhofes lag, das als Tor
dienende, kleine Stück Gartenzaun aus weißem Kunststoff zur Seite schob
und durch die hohe Hecke hindurch auf den Hintereingang zuging, befand
man sich mit einem Schritt in einer ganz anderen Welt. Man stand
plötzlich in einem Miniwäldchen aus haushohen Kiefern und vereinzelten
niedrigen Nadel- und Staudengewächsen, umgeben von einer mannshohen und
blickdichten Hecke. Die Luft roch auch im trockensten Sommer leicht
feucht nach Wald und im heißesten Sommer fiel einem sofort der
Temperaturunterschied zum Schulhof auf. Legte man den Kopf in den
Nacken, sah man die Kronen der Kiefern, die schon bei einem lauen
Lüftchen herrlich rauschten. Schaute man sich um, sah man unter den
Bäumen auch am helllichten Tage ein gewisses Zwielicht, das hier und
dort durch Sonnenstrahlen unterbrochen wurde, in denen Pollen oder
Staub tanzten. Links und rechts von dem immer mit Moos bewachsenen Weg,
der mit großen dunkelroten und grauen Gehwegplatten belegt und mit
hochkant im Sägezahnmuster stehenden roten Backsteinen begrenzt war,
standen kleine Stauden und mir unbekannte grüne bodenbedeckende
Pflanzen und vereinzelt, an den selten sonnigen Stellen, auch Blumen.
Des Weiteren bemerkte man immer wieder staunend, dass die Geräusche vom
Schulhof und von der Straße schlagartig leiser wurden, sobald man unter
den Bäumen stand, und man hörte stattdessen häufig nur das Summen von
Hummeln und Bienen.
Am Ende des kurzen Weges stand
man dann auch schon vor den zwei ausgetretenen Stufen, die zu der
massiven, hölzernen Hintertür mit dem rautenförmigen Fensterchen hoch
führten. Der Weg teilte sich vor dieser Tür und bog nach links und
rechts ab. Links unter dem Küchenfenster, unter dem immer eine
Wassertonne stand und ein gelber, aufgerollter Gartenschlauch hing,
endete er nach ein paar Metern und ging in die Rasenfläche über, die
seitlich und vor dem Haus den restlichen Garten bildete. Dort stellten
wir Kinder üblicherweise unsere Fahrräder ab. Rechtsherum trat man nach
ein paar Schritten unter den Bäumen hervor und linker Hand ging man auf
eine mit roten Backsteinen gepflasterte Terrasse, die in Laufe der
Jahrzehnte schon ganz wellig geworden war. Obwohl diese Terrasse wieder
ganz nahe an der Grenze zum Schulhof lag, konnte man diesen wegen der
dichten und hohen Stauden und der Hecke nicht einsehen, trotzdem war
sie je nach Stand der Sonne komplett lichtüberflutet. Rechts grenzte
die alte Wellblechgarage direkt an diese Terrasse. Die Garage hatte ein
Tonnendach und war in drei verschiedenen Farben gestrichen: braun,
beige und grün. Sämtliche Farben hatten schon Blasen geworfen und der
Rost blühte besonders in Bodennähe schon ganz ordentlich. Besonders im
Sommer durften wir Kinder diese Garage immer „neu streichen“. Natürlich
nicht mit echter Farbe, aber Frau Dicker versorgte uns immer mit Pinsel
und einem Eimer Wasser. Das sah auf dem alten, stumpfen Lack natürlich
wie neue Farbe aus und ich kann gar nicht zählen, wie oft wir das alte
Wellblech im Laufe der Jahre komplett neu „gestrichen“ haben.
Wahrscheinlich hatten wir einen nicht unerheblichen Anteil am Rost zu
verantworten.
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Vor der Grundsanierung |
Das Dach wird neu gedeckt. Foto: Hans-Dieter Dicker |
Ging man den Weg am Haus
entlang weiter, gelangte man in einen kleinen Hof, der rechts von der
kurzen Seite der Garage und links und von vorne durch diverse
Holzschuppen begrenzt war. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass
Frau Dicker mir jemals erlaubt hätte, dort hineinzugehen. Soweit ich
das von außen sehen konnte, wurden dort die Brennstoffe für die
altertümlichen Beheizung und den Herd aufbewahrt: Kohle, Holz und
Briketts. In einem anderen Schuppen hatte Frau Dicker diverses Werkzeug
gelagert und auch ihr Fahrrad stand dort. Der kleine viereckige Hof
bestand aus Rasen und Gras und der steinerne Weg endete an der
Hinterseite der Garage. Zwischen der Garage und dem dort angrenzenden
„Werkzeugschuppen“ gab es einen schmalen Durchgang zu unserem
Lieblingsspielort. Je nachdem war es das „Räuberversteck“, die
„Pirateninsel“ oder was die kindliche Phantasie sonst noch so her gab.
In Wirklichkeit war es das Stück Grundstück, das hinter der Garage noch
bis zur Grenze übrig blieb. Es war so lang wie die Garage und so breit
wie der Werkzeugschuppen und die Grundstücksgrenze war mit einer
übermannshohen Hecke und Bäumen bewachsen, sodass niemand, der außen
daran über den Gehweg zwischen Frau Dickers Grundstück und dem alten,
tieferliegenden Garten (auf dem heute die Volksbank steht) vorbeiging,
diesen versteckten Spielplatz auch nur erahnen konnte. Der Bereich
selber bestand aus festgestampftem Mutterboden und aus diversen Bäumen,
die quasi das Dach bildeten. Das fehlende Unterholz ließ genügend Platz
zum Spielen. Dafür gab es ein paar auf dem Boden liegende, mit Moos
bewachsene, schon ganz verfaulte Baumstämme, die im Herbst mit den
unterschiedlichsten Baumpilzen besiedelt waren und unter denen wir
immer irgendwelche Ameisen- oder sonstige Krabbeltiere gefunden hatten.
Wir Kinder haben dort so machen „Schatz“ verbuddelt und es würde mich
nicht wundern, dass bei der späteren kompletten Umgestaltung des
Grundstücks für einen Erwachsenen einige dort nicht vermutete Dinge aus
der Erde geborgen worden sind.
Der vordere Teil des Grundstücks, das zur Silvesterstraße liegt, war
vom Schulhof und der Straße einsehbar und mit normalem Rasen und einem
niedrigen Jägerzaun samt ebenso niedriger Hecke begrenzt. Um auf den
Weg zur Haustür zu gelangen, musste man eine kleine Gartenpforte
öffnen, die wir als Kinder sehr zum Missfallen von Frau Dicker aber
mehrheitlich übersprangen. Das klappte manchmal, öfter aber auch nicht
und Frau Dickers Schimpfen wurde dann schnell zu einem Trösten. Die
Haustür war links und rechts von hohen Staudengewächsen eingerahmt und
man musste drei Stufen hoch laufen. Für Eingeweihte auffällig waren die
beiden Klingelknöpfe. Der obere war mit „Anni Dicker“ beschriftet, der
untere Name wechselte im Laufe der Zeit mehrmals. Frau Dicker wohnte
natürlich die ganze Zeit über alleine in dem Haus. Aber sie dachte
halt, wenn fremde Leute mit schlechten Gedanken vor der Tür ständen,
würden diese es sich zweimal überlegen diese in die Tat umzusetzen,
wenn sie zwei Bewohner befürchten müssten. Die letzte Grundstücksseite,
die zum Weg an der heutigen Volksbank vorbei lag, war wieder dicht
bewachsen und wurde auch teilweise durch die Rückseiten der oben
beschriebenen Schuppen gebildet. Von Büschen umgeben, stand an dieser
Seite auch ein kleines Telefonverteilerhäuschen der damaligen
Bundespost.
Alles in allem war das Grundstück von Frau Dickers Haus für uns Kinder
ein herrlicher Abenteuerspielplatz, der besonders in den warmen Monaten
zum Spielen und Herumstromern einlud, aber den wir nicht immer benutzen
durften. Frau Dicker war eine herzensgute Frau und sie schlug jemandem
kaum etwas ab, aber sie sagte uns Kindern schon deutlich, wenn wir zu
laut waren oder sie gerade Besuch hatte und wir störten. Aber immer mit
ihrem ganz eigenen Charme und in Erle gab es in den 1970er und Anfang
der 80er noch genügend weitere Orte ganz nach unserem Geschmack. Diese
Orte sind heute leider allesamt verschwunden und dem „Fortschritt“
gewichen.
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Blick aus der sanierten Küche Richtung Turnhalle |
Blick aus der sanierten Küche Richtung Feuerwehrhaus Foto: Hans-Dieter Dicker |
Im Winter, wenn es früh
dunkel wurde, verwandelte sich der verwunschene allerdings schnell zu
einem unheimlichen Ort. Was im Frühling, Sommer und Herbst so toll
grünte und blühte, lag im Winter brach. Die Bäume knarrten und knackten
im Wind und des Frostes wegen, die Krähen krächzten in den hohen Bäumen
der Silvesterstraßen-Allee und man beeilte sich schnell, zur Hintertür
zu gelangen, wo schon das Küchenfenster einen hellen Streifen Licht in
die Dunkelheit entließ und Wärme und Behaglichkeit versprach. Ich
rannte als Knirps dann, ohne nach links und rechts zu schauen, (schon
gar nicht nach rechts, wo der dunkel Hof und die alten Schuppen
„lauerten“) die Stufen hoch.
Ob im Sommer oder Winter, die Einlasszeremonie war immer dieselbe. Frau
Dicker hatte mit mir ein Klopfzeichen ausgemacht, damit sie daran
erkennen konnte, wer vor ihrer Hintertür stand. Trotzdem machte sie die
Tür nicht eher auf, bevor ich mich nicht wieder vor die Stufen gestellt
hatte, damit sie mich durch das kleine Rautenfenster der Hintertür
erkennen konnte und, eigentlich unnötigerweise, fragte sie dann auch
noch, ahnungslos tuend, wer denn da wäre. Nach meiner Antwort konnte
man sie dann immer leise laschen hören und dann klimperte der große
Schlüssel in dem alten Türschloss, ein zusätzlicher Riegel wurde
zurückgezogen und mit einem Ruck wurde die schwere, massive Holztür
nach außen hin aufgestoßen. Fast einen halben Meter über mir stand dann
Frau Dicker, wie immer elegant gekleidet und mit den niemals fehlenden
großen, weißen Knopfohrringen mit der Klinke in der Hand, lachte mich
an und bat mich mit einem heiteren „Komm rein!“ ins Haus oder auch
nicht. Wenn Frau Dicker keine Lust hatte oder in Ruhe fernsehen wollte,
dann sagte sie das auch und wir Kinder zogen dann wieder ab bis zum
nächsten Mal.
Wenn man durch die Hintertür ins Haus eintrat, gelangte man in die
Diele. Linkerhand war die Treppe in den Keller und in das Dachgeschoss
und weiter hinten eine Tür in einen anderen Raum. Rechterhand hing die
Garderobe an der Wand und direkt dahinter der Eingang zur Wohnküche,
gefolgt vom Zugang zum Wohnzimmer. Außer der Diele, der Wohnküche und
dem Wohnzimmer habe ich in all den Jahren nie ein anderes Zimmer in
diesem Haus zu sehen bekommen. Soweit ich weiß, standen diese, solange
Frau Dicker alleine dort lebte, leer. Wenn man bedenkt, dass jedes
Zimmer mit einem eigenen Holz- oder Kohleofen geheizt werden musste,
war es natürlich praktischer, wenn man die Räume, die man eh nicht mehr
brauchte, einfach ungenutzt ließ.
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Die vielen Tannen vorne im Schnee |
Frau Anni Dicker im Jahr 2007 Foto: Hans-Dieter Dicker |
Auch hier im Haus fielen dem
Besucher, wie auch im Garten, sofort zwei Dinge auf: Im Sommer war das
Innere des Gebäudes immer schön kühl und es war absolut leise. Kaum ein
Geräusch von draußen drang herein. Die Innentüren bestanden aus
massivem Holz und es gab keine Türklinken. Für uns Kinder damals ein
Novum, kannten wir in den 70er/80er Jahren doch gar nichts anderes.
Stattdessen hatten die Türen an jeder Seite einen hochkant stehenden
U-förmigen Griff, auf dessen Oberseite ein Daumendrücker montiert war.
Mit diesem Drücker öffnete man die geschlossene Tür. Für uns Kinder
fast unmöglich, weil schwergängig, weshalb Frau Dicker immer mit einem
„Warte, ich mach schon!“ vorauseilte. Die Diele war mit einem
Steinfußboden ausgestattet, auf dem ein Teppichläufer lag.
Die Wohnküche war der gemütlichste Raum, besonders im Winter. Trat man
durch die Tür, standen an der linken Seite ein alter Kohle- und ein
etwas modernerer Gasherd. Daneben gleich der Durchgang zum Wohnzimmer
und daneben der wuchtige, hölzerne Küchenschrank mit Anrichte. Der
hintere Teil der Küche wurde durch eine Wand noch zusätzlich von einer
Art Speisekammer abgetrennt. Auf der rechten Seite der Dielentür stand
die gemütliche Sitzecke mit Eckbank, großem Tisch und Stühlen. Wenn
nicht gerade im Fernsehen eine Sendung lief, die Frau Dicker
interessierte, haben wir an diesem Tisch gesessen, Brett- oder
Kartenspiele gespielt oder einfach nur geklönt. Sie hatte für jedes
Problem ein offenes Ohr und meistens auch eine objektive Lösung parat.
Über dieser Sitzecke hing an der Wand ein großes Poster mit einer
politischen Weltkarte und allen Flaggen der Staaten der damaligen Zeit.
Daneben gab es noch eine kleine Küchenzeile mit einer Spüle und vor der
Wand zur Speisekammer standen zwei kleine Sesselchen mit
Schafspelzbezug. Der Holzfußboden war mit mehreren Teppichen ausgelegt
und an den Fenstern hingen die selbstgebastelten Dekorationen von Frau
Dicker. Sie hat damals sehr viele Fensterampeln hergestellt, indem sie
feines, farbiges Kunststoffgranulat im Kohleherd in runden Aluschalen
verflüssigte und darin Gräser, Ähren und Blumen einlegte. Nach dem
Aushärten wurden daraus hauchdünne, transparente, runde Scheiben in
verschiedenen Größen und Farben, die, als Mobile zusammengefügt,
besonders bei Sonneneinstrahlung tolle Lichtspiele in den jeweiligen
Räumen erzeugten.
Frau Dicker und einer ihrer VW-Käfer |
Als letzten Raum möchte ich
noch das Wohnzimmer beschreiben, das man durch die Tür in der Küche
oder durch die Dielentür betreten konnte. Auch hier stand in der Ecke
der unvermeidliche Kohlenofen, auf dem man obendrauf sogar etwas kochen
oder warmhalten konnte, denn es gab zu dem Zeitpunkt keine
Zentralheizung in diesem Haus. Im Winter musste Frau Dicker bis in die
90er Jahre hinein ihre bewohnten Zimmer regelmäßig mit Holz und
Briketts heizen, die sie in dem beschriebenen Schuppen einlagern ließ.
Das Wohnzimmer wurde von einem altmodischen, dunklen Wohnzimmerschrank
dominiert, in dem viele Erinnerungsstücke von Frau Dicker standen. Um
den mittig im Zimmer platzierten Couchtisch standen natürlich das Sofa
und zwei kleine Sessel, die denen in der Küche nicht unähnlich waren.
Gerade im Sommer war es dort und in der Küche durch die Bäume bedingt
immer schattig und kühl und im Winter bollerten die Öfen und brachten
wohlige Wärme, die sich so ganz anders anfühlte als die von einer
Zentralheizung. Der alte Holzfußboden war auch mit mehreren Teppichen
fast ganz bedeckt. In allen Zimmern waren die elektrischen Leitungen
auf dem Putz bzw. auf der Tapete verlegt und die Lichtschalter waren
teilweise noch altmodische Bakalit-Drehschalter. Ich bin in einem
modernen, damals nagelneuen Elternhaus groß geworden, sodass so etwas
für mich kleinen Knirps völlig unbekannt und fremdartig war.
Wenn man über den knarrenden Holzfußboden ging, dann konnte man die
Geschichte dieses Hauses praktisch atmen hören. Es wurde 1893 als
damals viertes Schulgebäude im Dorf erbaut und diente als Knabenschule.
Um 1908 wurde dann aus der Schule das Wohnhaus mit zwei Wohnungen,
deren Zimmeraufteilung zur Zeit meiner Erzählung immer noch so
vorhanden war. Erst 1945 gab es die ersten Ausbesserungen, durch den
verheerendsten Luftangriff am 23. März 1945 bedingt, den Erle kurz vor
dem Ende des 2. Weltkrieges erlebt hat. Nach dem Kriege wurde das Haus
zum Wohnhaus mit Polizeiposten, und nachdem der Polizist Weitkämper mit
seiner Familie versetzt worden war, zog der Polizist Hans Dicker mit
seiner Familie dort ein. Die Polizeistation wurde nach dem Tode Hans
Dickers 1968 aufgelöst und Frau Dicker blieb weiterhin dort, bis sie
2005 zu ihrem Sohn zog. Bereits 1992 entschloss sich der Vermieter
endlich mal zu einer Grundsanierung, sodass Frau Dicker die letzten
Jahre in diesem Haus wenigstens in relativ modern ausgestatteten
Räumlichkeiten verbringen konnte. Leider fielen dieser Grundsanierung
auch die kompletten Außenanlagen zum Opfer und damit verschwand auch
einer der letzten verwunschenen, geheimnisvollen, ursprünglichen Orte
im Erler Dorfkern, den wohl nur die Kinder des Schulhofes und des
Kirchhofes als solche empfunden und geliebt haben. Frau Dicker starb am
30. Dezember 2010 im Alter von 91 Jahren.