von Michael Kleerbaum

 

Das Dörfchen Erle war Anfang bis Mitte der 1980er Jahre für meine Generation der Dorfkinder ein riesiger Abenteuerspielplatz. Mitten im Dorf gab es noch große, unbebaute Wiesen, Pättken und Felder. Wir Kinder vom Schulhof und vom Kirchplatz kannten jede Ecke und jedes Versteck im Dorf. Das I-Tüpfelchen in den Ferien oder den Wochenenden waren aber die verlassenen NATO-Liegenschaften in der Östrich und an der Rhader Straße. Beide natürlich hinter der Umgehungsstraße B224 und nicht nur deshalb unbedingt verboten! Aber wir waren Kinder und das Geheimnisvolle hat uns natürlich magisch angezogen. Zu verführerisch waren die Geschichten und Mythen, die sich um die alten Anlagen rankten. Eben echtes „Fünf-Freunde-Land“, wie aus einer Geschichte von Enid Blyton entsprungen. Wenn ich heute als Erwachsener daran zurückdenke, dass wir niemals jemandem etwas davon gesagt haben, wo wir hin wollten und was uns in den Bunkern und morschen Gebäuden hätte alles passieren können…, aber wir waren halt Kinder.

Wenn die Sommersonne vom Himmel brannte und wir nichts Besseres zu tun hatten, schwangen wir uns auf unsere Räder und radelten den Holten herunter bis zur Kreuzung des Grenzwegs, rechts die alten Baracken und Gebäude der alten NATO-Kommandantur und links Wiesen und Felder. Die Bürgersteige waren noch nicht so schön saniert wie heute und mit Asche belegt, aus der Unmengen Kamille und Löwenzahn spross. Unser Ziel war die ehemalige Abschussbasis in der Holzheide, innerhalb eines dichten Nadelholzwaldes und ist nur von denen zu finden, die auch wissen, wo sie liegt. Wir wussten das natürlich. Damals, als die Anlage noch in Betrieb war und die holländischen oder belgischen Truppen ihre Übungen abhielten, heulte die Sirene der NATO und kurze Zeit später konnte man, wenn man sich in der Östrich befand, die weißen Raketenspitzen knapp über den Nadelbäumen in der Sonne blitzen sehen.

Nun aber lag die Anlage verlassen da und wurde nur hin und wieder zu  Anfang bis Mitte der 1980er üblichen Herbstmanöver für kurze Zeit als Truppenstützpunkt reaktiviert. Wir haben die B224 dann auf der Kreuzung zur Brannenschnede überquert, entweder über die Kreise hinweg, die von den alliierten Panzer bei den Manövern beim Abbiegen zur Raketenbasis auf dem Asphalt hinterlassen wurde, oder über die Friedenssymbole, die ebenso häufig von irgendjemand auf die Straße gepinselt wurden. Ein paar Meter weiter stand man dann auf der Kreuzung Hatkamp/Osterholten bereits vor dem alten rot-weiße Schlagbaum, der damals den Zugang zur Raketenbasis, der im Volksmund genannten „Panzerstraße“, verweigerte. Für Autos und Lastwagen, Fahrräder und Spaziergänger hatten sich im Laufe der Jahre rechts und links daneben ihren Weg durch das Unterholz gebahnt und man befand sich dahinter bereits in dem dichten Wald und die nahe Bundesstraße war kaum zu hören.

Nach rund 700m machte die bis dahin schnurgerade verlaufende Straße einen scharfen Knick nach links und nach weiteren 150m hörte der Wald plötzlich auf. Auf der rechten Seite konnte man schon die Anlage mit ihrem Stacheldrahtzaun und den hohen Erdwällen sehen und linker Hand knapp einen Kilometer weiter Grönigers Reiterhof. Noch dreihundert Meter weiter und wir haben vor dem Haupttor gestanden. Absolute Stille. Höchsten das Rauschen des Windes im nahen Wald oder hin und wieder eine Feldlerche war zu hören. Und entweder hatten wir Glück, und die dicke Kette mit dem massiven Vorhängeschloss war mal wieder verschwunden oder wir hatten Pech und das Haupttor war für uns kein Eingang. Brauchten wir auch gar nicht, der hohe Zaun hatte schon seit Jahren einen anderen Zugang für Leute, die klein genug waren.

Damals war die rund 1300m lange Umzäunung durch einen breiten gerodeten Streifen vom umgebenen Wald getrennt. Bis auf die besondere Stelle, an der vier Bäume standen. Einer außerhalb des Geländes, dann kam übermannshoch der Maschendrahtzaum mit dem Stacheldraht oben drauf, und gleich daneben standen zwei kleinere Bäume. Man konnte, wenn man sich traute, ohne Probleme mit Hilfe dieser Bäume den Zaun überwinden, alle anderen haben das Loch genommen, das ein paar Meter weiter durch hüfthohes Grass erst auf dem zweiten Blick zu erkennen war. Leider konnten wir unsere Fahrräder nicht mitnehmen, wenn wir diese Möglichkeit nutzen mussten, aber auf dem Gelände lagen so viele Glassplitter und sonstige Zeug herum, dass es wohl auch besser so war. Also haben wir die Räder fein säuberlich an den Zaun angekettet. Werktags war die Gegend menschenleer und verlassen, wir konnten uns darauf verlassen, dass uns niemand hören und sehen konnte. Perfekter Spielplatz.

Sobald wir auf der anderen Seite des Zauns waren, begann das Abenteuer für uns Kinder. Man stand vor einem Meer von hohem, von der Sonne vertrocknetem Gras, bis auf das Vogelgezwitscher, das hin und wieder durch einen Kuckuck oder einen Specht ergänzt wurde, war es totenstill und vor uns lag ein Paradies aus alten Gebäuden, geheimnisvollen unterirdischen Gängen, Türen und Luken, die in die hohen Erdwälle führten, ein Schienennetz, kilometerlange befestigten Wegen und kleine Laubbaum-Heine auf künstlichen Hügeln. Auf allem und jedem lag ein gewisser Zauber des Maroden, den alte, verlassene Anlagen so an sich haben, und der Duft des Sommers. Und all über all wuchs hüfthohes Gras unterbrochen von Dünen des in der Erler Heide so oft zu findende feine, gelbe Sandes.

Von unserm persönlichen „Eingang“ marschierten wir dann in der Regel über den Weg hinweg, den die Streifenpatrouillen wohl immer benutzt haben, und waren bereits nach rund 100m mitten „drin“. Links und rechts erhoben sich Erdwälle, die von oben wie ein „U“ ausgesehen haben. In diesen Wallanlagen stand jeweils im unteren geschlossenen Ende eine Halle. Der Platz in diesen „U“s war asphaltiert und dort waren einige Jahre lang noch immer eine für uns nicht zu begreifenden Hochschienenkonstruktion aus Stahl zu sehen, die einerseits in diese Hallen führte und andererseits in einen unterirdischen Bunker innerhalb der Wallanlange. Heute weiß ich, dass auf dieser Schiene die Raketen auf speziellen Startlafetten von den Hangars auf die drei Startplätze bewegt wurden, denn um diesen handelte es sich bei dem asphaltieren Platz im U. Die Hallen waren langweilig, die Tore standen sperrangelweit offen und in den Hallen selber gab es außer unzähligen Vogelnestern, die unter dem Dach auf den Gitterträgern nisteten, nichts zu sehen. Es war alles, was nicht niet- und nagelfest war, damals mit abtransportiert worden, sogar alle Stromkabel und sanitären Leitungen waren nicht mehr vorhanden.

Interessanter waren die Bunkeranlagen. Heute als Erwachsener weiß ich natürlich, wie leichtsinnig wir damals waren. Zum einen fielen die schweren Türen sehr leicht und auch schnell wieder ins Schloss und zum anderen war es trotz offener Türen in den Bunkern nach wenigen Metern wieder stockdunkel. Nachdem wir in einem Sommer die tiefen Schächte dort gefunden hatten, deren Grund wir nicht mal mit unseren Taschenlampen ausleuchten konnten, haben wir die Bunker immer gemieden. Nicht auszudenken, wenn die Bunkertüren zugefallen wären. Keiner von den Eltern hätte gewusst, wo wir waren, und schreien und klopfen wäre Zeitverschwendung gewesen!

Aber auch ohne die unheimlichen Bunker gab es noch genug zum Spielen und zum Entdecken. Nicht nur, dass die gesamte Anlage mit Erdwällen durchzogen war, es gab sogar einen kleinen Hügel, der ganz mit einem dichten Wald überwuchert war und einen herrlichen Spielplatz abgab. Auch sonst bot diese riesige Anlage einen Abenteuerspielplatz nach dem anderen, hinter jeder Ecke gab es etwas zu entdecken. Zum Beispiel gab es viele oberirdische Schutzgräben, die zu runden, in den Kuppen der Wälle eingelassenen Verteidigungsstellen führten. Man konnte sich also relativ unsichtbar von einem Teil des Geländes in einen anderen Teil bewegen.

Obwohl alles, was sich irgendwie bewegen ließ, damals von der NATO mitgenommen wurde, haben wir in einem Jahr nach einem der üblichen Herbstmanöver in dem Flachdachbau direkt neben der Pförtnerhäuschen bergeweise grüne Plastikpatronen gefunden, die oben an der Spitze alle aufgeplatzt und vor allem leer gewesen waren. Wir vermuteten, dass es sich hierbei um Übungsmunition handeln musste, die man damals einfach liegengelassen hat. Diese Patronen und noch etwas anderes in der Radarstation an der Rhader Straße waren die einzigen Sachen, die wir jemals dort gefunden hatten.

Leider hatten wir von unserem großartigen Spielplatz nur rund drei Jahre etwas. Danach haben ortsfremde Jugendliche mit Geländemotorädern und andere Leute aus Dorsten, von denen wir gar nicht wissen wollten, was die da so trieben, die Anlage für sich entdeckt und im Laufe der Zeit auch teilweise erheblich beschädigt. Seitdem war es wirklich nicht mehr sicher für uns Kinder und wir haben schweren Herzens unseren „geheimen Stützpunkt“ aufgegeben.

Denn wir hatten ja noch den anderen. Die ehemalige Feuerleitradar-Anlage an der Rhader Straße lag zwar nicht so abgelegen, im Gegenteil, aber dafür nahe genug am Dorf, dass sich dort die Rocker- und Jugendbanden, die sich in der Zwischenzeit in der Östrich breit gemacht hatten, hier nicht hin trauten. Dafür war die Anlage bei weitem nicht so groß, aber auch nicht ganz so interessant. Als Dorfkind brauchte man nur über die Fußgängerampel der B224 zu laufen und war bereits nach rund 700m an dem Feldweg angekommen, wo man sein Fahrrad in einer Wallhecke verstecken konnte und wo es auch das Loch im Zaun gab, das andere bereits vorher dort hineingeschnitten hatten. Hinter diesem Loch befand sich ein kleiner Schuppen, bei dem früher mal eine hohe Antenne gestanden hat. In diesem Schuppen haben wir hölzerne Kisten gefunden, in denen armeegraue, unbeschriftete Blechdosen lagen, die mit einem roten Zeug ähnlich wie Waschpaste gefüllt waren. Da das Zeug auch ziemlich übel stank, haben wir uns nicht weiter damit beschäftigt. Rund 100m frei einsehbares Geländes musste man nun noch überwinden, um dann durch einen Durchgang in einen von übermannshohen Erdwällen umgebenen „Hof“ zu gelangen, der teilweise befestigt war. In diesem Hof befanden sich zwei Flachdachgebäude und bis auf in östlicher Richtung gebogene Erdwälle. Im Osten gab es dafür einen besonders hohen Erdwall, der ca. 100m schnurgerade von Nord nach Süd verlief und der auf seiner Krone eine befestigte Straße besaß, die man mit einer langen Rampe erreichen konnte. Auf den jeweiligen Enden dieses Walls haben früher die großen Radaranlagen gestanden, zu meiner Zeit waren nur noch die Fundamente und hüfthohe Mauern vorhanden. Neben dem Pförtnerhäuschen und einem Mannschaftsgebäude gab es allerdings nichts mehr zu sehen. Bunker oder andere für uns Kinder geheimnisvolle Orte haben wir jedenfalls nicht gefunden, beziehungsweise waren hier viele Türen auch fest zugeschweißt, im Gegensatz zur Raketenbasis. Das alles führte dann dazu, dass im Laufe der Zeit auch dieses alte NATO-Relikt den Reiz für uns Kinder verlor.

Kurioserweise hat sich die Erler Grundschule in meinem vierten Jahrgang ausgedacht, uns Kindern zum Abschluss mal etwas Besonderes zu bieten: einen Spielenachmittag ganz offiziell auf dem Gelände des ehemaligen Feuerleitradar-Bereichs. Ob die Lehrerinnen gemerkt haben, dass für viele von uns Kindern diese Welt gar nicht mehr so fremd und geheimnisvoll war, wie sie geglaubt haben?