Das Dörfchen
Erle war Anfang bis Mitte der 1980er Jahre für meine Generation der Dorfkinder
ein riesiger Abenteuerspielplatz. Mitten im Dorf gab es noch große, unbebaute
Wiesen, Pättken und Felder. Wir Kinder vom Schulhof und vom Kirchplatz kannten
jede Ecke und jedes Versteck im Dorf. Das I-Tüpfelchen in den Ferien oder den
Wochenenden waren aber die verlassenen NATO-Liegenschaften in der Östrich und
an der Rhader Straße. Beide natürlich hinter der Umgehungsstraße B224 und
nicht nur deshalb unbedingt verboten! Aber wir waren Kinder und das
Geheimnisvolle hat uns natürlich magisch angezogen. Zu verführerisch waren die
Geschichten und Mythen, die sich um die alten Anlagen rankten. Eben echtes „Fünf-Freunde-Land“,
wie aus einer Geschichte von Enid Blyton entsprungen. Wenn ich heute als
Erwachsener daran zurückdenke, dass wir niemals jemandem etwas davon gesagt
haben, wo wir hin wollten und was uns in den Bunkern und morschen Gebäuden hätte
alles passieren können…, aber wir waren halt Kinder.
Wenn
die Sommersonne vom Himmel brannte und wir nichts Besseres zu tun hatten,
schwangen wir uns auf unsere Räder und radelten den Holten herunter bis zur
Kreuzung des Grenzwegs, rechts die alten Baracken und Gebäude der alten
NATO-Kommandantur und links Wiesen und Felder. Die Bürgersteige waren noch
nicht so schön saniert wie heute und mit Asche belegt, aus der Unmengen Kamille
und Löwenzahn spross. Unser Ziel war die ehemalige Abschussbasis in der
Holzheide, innerhalb eines dichten Nadelholzwaldes und ist nur von denen zu
finden, die auch wissen, wo sie liegt. Wir wussten das natürlich. Damals, als
die Anlage noch in Betrieb war und die holländischen oder belgischen Truppen
ihre Übungen abhielten, heulte die Sirene der NATO und kurze Zeit später
konnte man, wenn man sich in der Östrich befand, die weißen Raketenspitzen
knapp über den Nadelbäumen in der Sonne blitzen sehen.
Nun
aber lag die Anlage verlassen da und wurde nur hin und wieder zu Anfang
bis Mitte der 1980er üblichen Herbstmanöver für kurze Zeit als Truppenstützpunkt
reaktiviert. Wir haben die B224 dann auf der Kreuzung zur Brannenschnede überquert,
entweder über die Kreise hinweg, die von den alliierten Panzer bei den Manövern
beim Abbiegen zur Raketenbasis auf dem Asphalt hinterlassen wurde, oder über
die Friedenssymbole, die ebenso häufig von irgendjemand auf die Straße
gepinselt wurden. Ein paar Meter weiter stand man dann auf der Kreuzung
Hatkamp/Osterholten bereits vor dem alten rot-weiße Schlagbaum, der damals den
Zugang zur Raketenbasis, der im Volksmund genannten „Panzerstraße“,
verweigerte. Für Autos und Lastwagen, Fahrräder und Spaziergänger hatten sich
im Laufe der Jahre rechts und links daneben ihren Weg durch das Unterholz
gebahnt und man befand sich dahinter bereits in dem dichten Wald und die nahe
Bundesstraße war kaum zu hören.
Nach
rund 700m machte die bis dahin schnurgerade verlaufende Straße einen scharfen
Knick nach links und nach weiteren 150m hörte der Wald plötzlich auf. Auf der
rechten Seite konnte man schon die Anlage mit ihrem Stacheldrahtzaun und den
hohen Erdwällen sehen und linker Hand knapp einen Kilometer weiter Grönigers
Reiterhof. Noch dreihundert Meter weiter und wir haben vor dem Haupttor
gestanden. Absolute Stille. Höchsten das Rauschen des Windes im nahen Wald oder
hin und wieder eine Feldlerche war zu hören. Und entweder hatten wir Glück,
und die dicke Kette mit dem massiven Vorhängeschloss war mal wieder
verschwunden oder wir hatten Pech und das Haupttor war für uns kein Eingang.
Brauchten wir auch gar nicht, der hohe Zaun hatte schon seit Jahren einen
anderen Zugang für Leute, die klein genug waren.
Damals
war die rund 1300m lange Umzäunung durch einen breiten gerodeten Streifen vom
umgebenen Wald getrennt. Bis auf die besondere Stelle, an der vier Bäume
standen. Einer außerhalb des Geländes, dann kam übermannshoch der
Maschendrahtzaum mit dem Stacheldraht oben drauf, und gleich daneben standen
zwei kleinere Bäume. Man konnte, wenn man sich traute, ohne Probleme mit Hilfe
dieser Bäume den Zaun überwinden, alle anderen haben das Loch genommen, das
ein paar Meter weiter durch hüfthohes Grass erst auf dem zweiten Blick zu
erkennen war. Leider konnten wir unsere Fahrräder nicht mitnehmen, wenn wir
diese Möglichkeit nutzen mussten, aber auf dem Gelände lagen so viele
Glassplitter und sonstige Zeug herum, dass es wohl auch besser so war. Also
haben wir die Räder fein säuberlich an den Zaun angekettet. Werktags war die
Gegend menschenleer und verlassen, wir konnten uns darauf verlassen, dass uns
niemand hören und sehen konnte. Perfekter Spielplatz.
Sobald
wir auf der anderen Seite des Zauns waren, begann das Abenteuer für uns Kinder.
Man stand vor einem Meer von hohem, von der Sonne vertrocknetem Gras, bis auf
das Vogelgezwitscher, das hin und wieder durch einen Kuckuck oder einen Specht
ergänzt wurde, war es totenstill und vor uns lag ein Paradies aus alten Gebäuden,
geheimnisvollen unterirdischen Gängen, Türen und Luken, die in die hohen Erdwälle
führten, ein Schienennetz, kilometerlange befestigten Wegen und kleine
Laubbaum-Heine auf künstlichen Hügeln. Auf allem und jedem lag ein gewisser
Zauber des Maroden, den alte, verlassene Anlagen so an sich haben, und der Duft
des Sommers. Und all über all wuchs hüfthohes Gras unterbrochen von Dünen des
in der Erler Heide so oft zu findende feine, gelbe Sandes.
Von
unserm persönlichen „Eingang“ marschierten wir dann in der Regel über den
Weg hinweg, den die Streifenpatrouillen wohl immer benutzt haben, und waren
bereits nach rund 100m mitten „drin“. Links und rechts erhoben sich Erdwälle,
die von oben wie ein „U“ ausgesehen haben. In diesen Wallanlagen stand
jeweils im unteren geschlossenen Ende eine Halle. Der Platz in diesen „U“s
war asphaltiert und dort waren einige Jahre lang noch immer eine für uns nicht
zu begreifenden Hochschienenkonstruktion aus Stahl zu sehen, die einerseits in
diese Hallen führte und andererseits in einen unterirdischen Bunker innerhalb
der Wallanlange. Heute weiß ich, dass auf dieser Schiene die Raketen auf
speziellen Startlafetten von den Hangars auf die drei Startplätze bewegt
wurden, denn um diesen handelte es sich bei dem asphaltieren Platz im U. Die
Hallen waren langweilig, die Tore standen sperrangelweit offen und in den Hallen
selber gab es außer unzähligen Vogelnestern, die unter dem Dach auf den
Gitterträgern nisteten, nichts zu sehen. Es war alles, was nicht niet- und
nagelfest war, damals mit abtransportiert worden, sogar alle Stromkabel und
sanitären Leitungen waren nicht mehr vorhanden.
Interessanter
waren die Bunkeranlagen. Heute als Erwachsener weiß ich natürlich, wie
leichtsinnig wir damals waren. Zum einen fielen die schweren Türen sehr leicht
und auch schnell wieder ins Schloss und zum anderen war es trotz offener Türen
in den Bunkern nach wenigen Metern wieder stockdunkel. Nachdem wir in einem
Sommer die tiefen Schächte dort gefunden hatten, deren Grund wir nicht mal mit
unseren Taschenlampen ausleuchten konnten, haben wir die Bunker immer gemieden.
Nicht auszudenken, wenn die Bunkertüren zugefallen wären. Keiner von den
Eltern hätte gewusst, wo wir waren, und schreien und klopfen wäre
Zeitverschwendung gewesen!
Aber
auch ohne die unheimlichen Bunker gab es noch genug zum Spielen und zum
Entdecken. Nicht nur, dass die gesamte Anlage mit Erdwällen durchzogen war, es
gab sogar einen kleinen Hügel, der ganz mit einem dichten Wald überwuchert war
und einen herrlichen Spielplatz abgab. Auch sonst bot diese riesige Anlage einen
Abenteuerspielplatz nach dem anderen, hinter jeder Ecke gab es etwas zu
entdecken. Zum Beispiel gab es viele oberirdische Schutzgräben, die zu runden,
in den Kuppen der Wälle eingelassenen Verteidigungsstellen führten. Man konnte
sich also relativ unsichtbar von einem Teil des Geländes in einen anderen Teil
bewegen.
Obwohl
alles, was sich irgendwie bewegen ließ, damals von der NATO mitgenommen wurde,
haben wir in einem Jahr nach einem der üblichen Herbstmanöver in dem
Flachdachbau direkt neben der Pförtnerhäuschen bergeweise grüne
Plastikpatronen gefunden, die oben an der Spitze alle aufgeplatzt und vor allem
leer gewesen waren. Wir vermuteten, dass es sich hierbei um Übungsmunition
handeln musste, die man damals einfach liegengelassen hat. Diese Patronen und
noch etwas anderes in der Radarstation an der Rhader Straße waren die einzigen
Sachen, die wir jemals dort gefunden hatten.
Leider
hatten wir von unserem großartigen Spielplatz nur rund drei Jahre etwas. Danach
haben ortsfremde Jugendliche mit Geländemotorädern und andere Leute aus
Dorsten, von denen wir gar nicht wissen wollten, was die da so trieben, die
Anlage für sich entdeckt und im Laufe der Zeit auch teilweise erheblich beschädigt.
Seitdem war es wirklich nicht mehr sicher für uns Kinder und wir haben schweren
Herzens unseren „geheimen Stützpunkt“ aufgegeben.
Denn
wir hatten ja noch den anderen. Die ehemalige Feuerleitradar-Anlage an der
Rhader Straße lag zwar nicht so abgelegen, im Gegenteil, aber dafür nahe genug
am Dorf, dass sich dort die Rocker- und Jugendbanden, die sich in der
Zwischenzeit in der Östrich breit gemacht hatten, hier nicht hin trauten. Dafür
war die Anlage bei weitem nicht so groß, aber auch nicht ganz so interessant.
Als Dorfkind brauchte man nur über die Fußgängerampel der B224 zu laufen und
war bereits nach rund 700m an dem Feldweg angekommen, wo man sein Fahrrad in
einer Wallhecke verstecken konnte und wo es auch das Loch im Zaun gab, das
andere bereits vorher dort hineingeschnitten hatten. Hinter diesem Loch befand
sich ein kleiner Schuppen, bei dem früher mal eine hohe Antenne gestanden hat.
In diesem Schuppen haben wir hölzerne Kisten gefunden, in denen armeegraue,
unbeschriftete Blechdosen lagen, die mit einem roten Zeug ähnlich wie
Waschpaste gefüllt waren. Da das Zeug auch ziemlich übel stank, haben wir uns
nicht weiter damit beschäftigt. Rund 100m frei einsehbares Geländes musste man
nun noch überwinden, um dann durch einen Durchgang in einen von übermannshohen
Erdwällen umgebenen „Hof“ zu gelangen, der teilweise befestigt war. In
diesem Hof befanden sich zwei Flachdachgebäude und bis auf in östlicher
Richtung gebogene Erdwälle. Im Osten gab es dafür einen besonders hohen
Erdwall, der ca. 100m schnurgerade von Nord nach Süd verlief und der auf seiner
Krone eine befestigte Straße besaß, die man mit einer langen Rampe erreichen
konnte. Auf den jeweiligen Enden dieses Walls haben früher die großen
Radaranlagen gestanden, zu meiner Zeit waren nur noch die Fundamente und hüfthohe
Mauern vorhanden. Neben dem Pförtnerhäuschen und einem Mannschaftsgebäude gab
es allerdings nichts mehr zu sehen. Bunker oder andere für uns Kinder
geheimnisvolle Orte haben wir jedenfalls nicht gefunden, beziehungsweise waren
hier viele Türen auch fest zugeschweißt, im Gegensatz zur Raketenbasis. Das
alles führte dann dazu, dass im Laufe der Zeit auch dieses alte NATO-Relikt den
Reiz für uns Kinder verlor.
Kurioserweise
hat sich die Erler Grundschule in meinem vierten Jahrgang ausgedacht, uns
Kindern zum Abschluss mal etwas Besonderes zu bieten: einen Spielenachmittag
ganz offiziell auf dem Gelände des ehemaligen Feuerleitradar-Bereichs. Ob die
Lehrerinnen gemerkt haben, dass für viele von uns Kindern diese Welt gar nicht
mehr so fremd und geheimnisvoll war, wie sie geglaubt haben?