Das Barkendal
von Hauptlehrer Heinrich Lammersmann (Datum unbekannt)
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Klingt der Name „Barkendal“ in seiner heimatlichen Breite nicht wundervoll schön? Ich liebe ihn immer und wenn ich ihn klingen höre, dann löset er Vorstellungen bei mir aus von Waldesrauschen und Wedelwinken, von Amselschlagen und Lerchentrillern. Ja, das Barkendal ist schön.

Wo muß ich dieses Paradies denn suchen? Verläßt Du das Dorf Erle nach Nordwesten und nimmst den Weg nach dem alten Hofe Tellmann (Kuhlmann), so hast du den richtigen Ausgang. Vor vielen, vielen Jahren, als unser Dorf noch wie eine kleine Festung von einer Wallhecke umgeben war, hing vor unserm Ausgange ein Heck, das Schafsheck genannt, weil durch dieses Tor die Schafe hinausgetrieben wurden, um in der Ströh auf der Heide und den Grasplätzen sich ihr Futter zu holen. Bei Tellmann verläßt man den Fahrweg und folgt dem „Rytterweg“, der fast alle Ackerstücke schneidet. Die Rytter der Herren von Raesfeld haben ihn geschaffen; um sich den Weg abzukürzen, ritten sie nicht bis in die Westrich bis Wissing, sondern nahmen unbekümmert um die Landleute ihren Reitweg über Acker gerade aufs Dorf zu. So ist dieser Weg entstanden. Die Erler aber sind ihnen nachgelaufen bis auf den heutigen Tag. Auch wir folgen diesem Wege bis wir den Fahrweg erreichen. Nachdem wir dort einige hundert Meter nach Norden gewandert sind, zweigt sich wieder ein schmaler Fußweg nach Westen ab. Er führt uns nach einigen Minuten nach einem alten Bauernhofe, der am Eingang des Barkendals liegt und in der Gegend wohl die älteste Siedelung ist. Es ist der Hof Luchmann.

Der Hof Luchmann steht in enger Beziehung zum Barkendal. Wahrscheinlich hat er vom Barkendal seinen Namen bekommen. In den ältesten Urkunden heißt der Hof „Lochumb“, d.h. der Besitz oder der Hof „um das Loch“, um das Barkendal. Spätere Urkunden nennen ihn Lochmann, dann Luchtemann und endlich Luchmann. Um Volksmund sagt man Luchem. Dieser Hof gehörte zu der fränkischen Siedelung in der Westrich. Hier war die erste Wassermühle angelegt. Durch das Barkendal fließt der Grenzbach, der Rheinland und Westfalen trennt. Wo dieser in das Barkendal einbiegt, an einem Wege, liegt noch eine freie Stelle, wo man vor vielen Jahren noch die Achse des Mühlenrades am Ufer des Baches im Erdreich gefunden haben will. Noch anderes Holzwerk soll dort im Boden liegen. Die Mühle muß eine unterschlägige gewesen sein. Der Unterschied im Gelände ist nicht so erheblich, als daß es hätte anders sein können.

Die eigentliche Barkenland beginnt an diesem Mühlenplatze. Es erstreckt sich von hier etwa 1 Kilometer weit nach Westen. Das Diluvium hat hier nördlich und südlich kleine Höhenrücken geschaffen und das Tal ausgehöhlt. Der südliche Höhenrücken hat am östlichen Ende eine reiche Niederlage von Rheinkies (Pöttersberg). Es muß hier eine starke Wasserbewegung mit den Gewässern aus der Kölner Lucht stattgefunden haben; die Kiesablagerung ist davon eine Folge. Sie ist nur eine begrenzt örtliche. Weiter nach Westen enthält der Höhenrücken vielfach Lehm, der für die Produkte der Ziegeleien verwertet wird. Die Talsohle des Barkendals liegt nur etwa 4-5 Meter tiefer als die Höhenrücken. Ein „tiefes, tiefes Tal“ darf man sich nicht vorstellen. Im Osten ist die Talsohle etwa 100 Meter breit. Man erkennt noch deutlich 1 Meter hohe Ufer. In alter Zeit ist der östliche Teil des Barkendals unter Wasser gewesen und hat vielleicht den Mühlenteich gebildet. Der Talgrund hat also recht gutes alluvialisches Erdreich und recht fruchtbare Wiesen. Neben den Ufern liegt das ansteigende Überschwemmungsgebiet, das hauptsächlich zu Ackerland benutzt wird. Ueberschwemmungen sind heute nicht mehr zu fürchten; treten sie ein, so bleiben sie doch auf den Wiesengrund beschränkt. Allerdings ist der Grenzbach ein launischer Geselle, der im Winter und auch nach heftigen Regenfällen im Sommer, gefüllt bis an des Ufers Rand oft tolle Sprünge macht. In seinem Übermut wühlt er sich oft einige Meter tief in Westfalen hinein, um dann nach einem kurzen Kehrt wieder ins Rheinland einzubrechen. In der folgenden Zeit wirft er die so entstandenen Halbinseln in seine Wasser und trägt sie fort, die Grenzstreitfragen ungelöst hinter sich lassend. Der Grenzbach ist bei Zeiten ein rechter Umgemeindungs-Fanatiker. Im heißen Sommer aber wird er müde. Wenn das Heu an seinen Ufern duftet und vom Ueberschwemmungsgebiet die Aehren winken, dann vergißt er sogar seinen Lauf und steht still auf dem weißen Sande seines tiefen Bettes. Die durstigen Tiere können dann nur an tieferen Stellen ihren Durst löschen. Ein regenreiches Gewitter in seinem Gebiete weckt ihn und bringt ihn wieder in Bewegung.

Nach dem Namen „Barkendal“=Birkental sollte man annehmen, daß dort die Birke vorherrschen würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Birkenbestand macht höchstens 20-30 Prozent der Waldbäume aus. Man kann einstens dort einen reicheren Birkenbestand angetroffen haben und auf Grund dieser Bäume den Namen gewählt haben. Der Wald im Barkendal, besonders im westlichen Teile bis an den Steinbach, ist ein recht schöner Mischwald; wenn auch wenig gepflegt und von Menschenhänden nicht besonders gefördert, hat die Natur gezeigt, was sie auch aus sich selbst kann, wenn man sie nur in Ruhe wirken läßt. Der hellbraune Waldboden ist im Winter mit zusammengesunkenen und von der Schneelast zerknickten Adlerfarn über und über bedeckt. In den schwarzen Höhlungen finden Kaninchen und Hasen, Igel und Hermelinchen ein weiches und warmes Lager. Der Waldboden ist sehr uneben. Er besteht aus verlassenen Bachbetten und –ufern, die das unruhige Grenzbächlein einst geschaffen und dann treulos verlassen hat. Diese Eigenschaft ist auch der Grund, weshalb der Wald noch nicht der Kulturwut der Jetztzeit zum Opfer gefallen ist. Weiter zum ansteigenden Höhenrücken nach Norden und Süden härt der Mischwald auf und es fangen die Kieferwaldungen an. Korr! Da sitzt ein Eichhörnchen nur einige Meter von mir und äugt nach mir. Ich stehe still wie eine Bildsäule. Wie schön ist doch der reine dicke Winterpelz. Wie zutraulich und treu blicken die runden schwarzen Aeugelein nach mir. Stolz geschwungen hält es den buschigen Schwanz auf seinen Rücken und die beiden Oehrchen stehen lauschend aufrecht. So sitzt das Tierchen vor mir auf den Hinterfüßen. Zwischen Unterkiefer und Brust hat es einen Ball trockenen Grases, so groß wie eine Pflanzkartoffel. Da faßt der Wind einen Zipfel meines Lodenmantels und „Korr“ springt unser Aeffchen etwa zwei Meter an den nächsten Buchenstamm in die Höhe mit seinem Heuballen, daß die scharfen Krallen nur so klatschen und der buschige Schwanz fliegt. Doch  an eine Flucht denkt es nicht. Mit einem Satze ist wieder auf dem Waldesboden. Es muß das Neue im Barkendal doch mal gründlich beäugen. Von dem fluchtartigen Sprunge ist der Heuball etwas struppig geworden. Seine erste Arbeit besteht nun darin, mit den Vorderfüßchen die Halme wieder mit einander zu vereinigen und zu einem schönen runden Ball zu machen. Nach kurzer Zeit ist ihm dies vollkommen gelungen. Alsdann bin ich wieder Gegenstand seiner Beobachtung. Niemals legte das Tierchen sein Last ab. Näher und näher kommt es an mich heran; der windbewegte Lodenmantel schien immer noch verdächtig zu sein. Eine Bildsäule vorstellen ist schwer, besonders im Winter, ich mußte meinen Körper bewegen und mit einem lauten Korr und klatschenden Sprüngen nahm das Tierchen Abschied. Durch die Kronen der Bäume ging es in den Kieferwald, wo es sein kugeliges Nest hatte und mit dem gesammelten trockenen Gras den Eingang verstopfen wollte. Wir hatten also noch eine recht strenge Winterzeit zu erwarten. Ich zündete meine Pfeife an und bedauerte, keine Kamera bei mir gehabt zu haben, um das hübsche Bild dieses Zusammentreffens festhalten zu können.

Für den Wechsel des Wildes und die Aesung ist das Barkendal wie geschaffen. Man findet dort alle Bewohner unseres heimischen Waldes. Während an der nördlichen Seite des Barkendals von Osten nach Westen der Grenzbach fließt, wird das Tal an der südlichen Seite von einem tiefen Abflußgraben begrenzt. Derselbe nimmt die Gewässer vom südlichen Höhenrücken auf und führt sie dem Grenzbache zu. Unmittelbar neben diesem Graben führt uns ein Fußweg von Osten nach Westen durch die Talsenkung. Selten ist dieser Graben zwischen Talsohle und Höhenrücken ohne plätscherndes Wasser. An seinen senkrechten Ufern stehen Tüpfelfarren bis tief in den Winter hinein. Der Frost tötet ihn erst, wenn alles vereist ist, um im zeitigen Frühjahr wieder aus der Erde zu rollen.

Wer dem Frühling entgegen gehen will, der wandert ins Barkendal. Wenn man anderswo noch kein Frühlingswehen in der Natur verspürt, im Barkendal finden wir schon seine Erstlinge. An der nördlichen Uferböschung des Vorflutgeländes findet man ganze Wälder mit Anemonen. Geschützt durch den nördlichen Wald gegen die kalte Luft und der Sonne ausgesetzt während des ganzen Tages, haben sich diese lieblichen Blumensternchen beeilt, aus ihrem Wurzelnetze hinauszuschlüpfen und sich auf ihrem schwachen Blütenstiele im Winde als Windröschen zu wiegen. Wie herrlich! Staunend betrachten wir eine solche Blütenpracht, die schon erscheint und leuchtet, wenn der Winter noch kaum die Tür zugeschlagen hat. Wir pflücken einige zarte weiße Sternblümchen – da, traurig fällt uns das Blütensternchen in die Hand. Es kann nur in seiner Heimat, seiner Wiese glücklich und lieblich blühen – es läßt sich nicht trennen von seinem heimatlichen Boden, ohne seine Pracht und Schönheit zu verlieren. Willst du dein Zimmer schmücken, mußt du eben andere Blumen wählen, das Windröschen will daheim bleiben zwischen Wald und Wiese.

Nicht lange nach dem Windröschen und in der nächsten Nachbarschaft findest du das duftige bescheidene Veilchen. Es läßt sich gerne pflücken und mitnehmen, um in der Enge des Zimmers weiter zu blühen und zu durften. Zwischendurch ist auch das Gänseblümchen sichtbar geworden und das Grün der Wiese am Rande des Baches wird satter. Das machen die fetten Blätter und Stengel der Dotterblume, die sich überall breit machen und die großen gelben Blumen weithin leuchten lassen. Es ist der billige Jakob des ersten Frühlings. Nicht lange steht diese Blume mit der schreienden Farbe, so kommt eine andere, die noch größere Massen auf den Wiesenplan wirft und niemals ausverkauft ist; es ist der Löwenzahn. Niemand trägt diese in sein Heim. Nur die Kinder sammeln die Blumen des Löwenzahns, um aus den dicken hohlen Blütenstielen Ketten zu machen, die sie sich um Hals und Schulter hängen und darum Kettenblumen nennen. Die Kriegsgefangenen 1914-1918 jubelten, als sie den Löwenzahn in so großen Mengen sahen. Wie Kinder hüpften sie in den Wiesen und stachen die jungen Löwenzahnpflänzchen heraus und machten sich einen wohlschmeckenden Salat davon. Den Westfalen ist eine solche Speise zu kleinlich und zu leckerisch. Er hat dafür nicht Zeit und Muße. Doch freut er sich auch, wenn der Frühling sich mit dem gelben Blumenflor vorstellt und sagt: Willkommen!

Mit dem vorrückenden Frühling ändert sich das Wiesenbild im Barkendal. Die gelbe Farbe verliert allmählich die Herrschaft, es kommt nach und nach die violette zur Geltung. Das bescheidene kleine Gänseblümchen gewinnt nie die Oberhand. Da kommt ihm eine verästelte krautige Blume zur Hilfe, die sich etwa 20 Zentimeter über das junge Wiesengras erhebt. Es ist das Wiesenschaumkraut. Wie ein zarter rotvioletter Brautschleier schwebt er über die Wiese und Rain. In den Astwinkeln findet man häufig eine Schaumflocke. Die Kinder sagen: Kuckuckspeichel sei es. Gewiß ruft der Kuckuck um diese Zeit so fleißig, daß es eine Notwendigkeit scheinen könnte, manchmal wie ein strammer Bauer hinterm Pfluge, ausspucken zu müssen, um die Stimmorgane leistungsfähig zu halten. Doch hier ist es eine falsche Annahme. Ein kleines winziges Insekt hat dort im Astwinkel den Stengel der Blume angebohrt und sein Ei darin gelegt. Die ausschlüpfende Larve reizt die Pflanze nun andauernd, ihren Saft dort abzugeben, damit die junge Schaumzirpe wachsen und gedeihen kann. Nicht Kuckucksspeichel, sondern Pflanzensaft als Wiege der kleinen Schaumzirpe trägt die rötliche Blume. Genau dasselbe findest du am Bach und Grabenrand bei den Zwergweiden, im Volksmunde „Erdwatt“ genannt, neben dem Fußwege.

Der Wald im westlichen Teile des Barkendals hatte im Winter nur die Hülskrabbenbüsche als Bodenschmuck; ein seltsamer, schöner und nützlicher Schmuck. Der Frühling bringt hier nun wahre Wunder. An den lichten Stellen entfalteten sich die vielblütigen Maiglöckchen in reicher Fülle. Der Ackerfarn hebt den lockeren Waldboden allenthalben und entrollt seine jugendfrischen Wedel bis in Manneshöhe. Ganz große Teile sind von ihm bedeckt, so daß man das lugende Hochwild kaum erschauen kann. Man glaubt sich oft in eine tropische Gegend versetzt, so üppig schießen und sprießen hier die Pflanzen. Der Sauerklee legt einen saftiggrünen Teppich über den braunen Waldboden. Die Kinder gehen nicht gerne vorüber, ohne davon zu naschen. Doch wartet, ihr Leckermäulchen, der Sommer bringt euch Beeren aller Art im Barkendal hervor bis spät in den Herbst hinein. Den übermütigen Jungen reicht er im Frühling „Zappholz“ (Weiden) für „Happe“ und Horn; im Sommer aber schießt das Kälberrohr in Mengen aus dem feuchten Boden der alten Bachbetten hervor und liefert das Material für eine andere  Musik und andere Instrumente. Dazu stimmen ein alle einheimischen Vögel, besonders am Morgen und Abend. Es ist dann das Barkendal ein klingendes Tal, ein „Tal der Lieder“.

Behüte Gott vor der Axt und der Kultivierungswut der Neuzeit!

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Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth und Julius Lammersmann hier gezeigt. Das berechtigt aber nicht zu der Annahme, das dieser im Sinne des Urheberrechts als frei zu betrachten sei und daher von jedermann benutzt werden dürfe. Alle Rechte liegen weiterhin bei den Erben von Heinrich Lammersmann.