Die Östrich, die Ursiedelung von Erle
von Hauptlehrer Heinrich Lammersmann 1925
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Die Steinzeitmenschen waren Jäger. Unstät durchzogen sie Horden- oder Familienweise den Urwald, ihre Nahrung zu erjagen. Des Schöpfers Segen „Wachset und mehret euch!“ ruhte auch auf ihnen. Während nun die Jäger sich mehrten, die Geschicklichkeit im Erjagen der Tiere mit der steigenden Kultur immer mehr zunahm, blieb das Jagdrevier dasselbe. Die Beute mußte notwendigerweise immer spärlicher werden. Auf weitausgedehnten Jagdzügen stieß man schon auf fremde Jagdhorden, die das Eindringen in „ihre“ Jagdgründe mit Waffen verhinderten. So war der Mensch auf sein Jagdgebiet fest beschränkt und mußte es zeitweise noch gegen fremde Einbrüche verteidigen. Der Wildreichtum schwand immer mehr, und die Ernährung der Horden wurde immer schwieriger. Der Hunger machte die Jäger zu Hirten. Man zog sich Tiere auf, zähmte sie und gewann aus ihrer Pflege allerlei Nutzen und Vorteile. Zur Zeit der Not konnte man sich mit seinem Viehbestande aushelfen. Die Freiheit der ursprünglichen Jägerei war zu Ende; die Herde behinderte die Bewegung und verlangte unbedingt Futter- und Weideplätze. Letztere sind gewiß auch bald Streitobjekte zwischen den Bewohnern geworden wie bei Lot und Abraham. Es blieb ihnen schließlich nichts übrig, als auch für die Tiere Nahrung zu schaffen durch die Bebauung der jungfräulichen Erde. Die Menschen mußten seßhaft werden und ihre Aussaat bewachen und beschützen bis zur Ernte.

Wo haben sich nun die Urbewohner unserer Gemeinde zuerst angesiedelt, d.h. dauerhafte Wohnungen für sich und ihre Tiere geschaffen, Felder, Kämpe angelegt und durch Hegewälle gegen  Feinde geschützt?

Die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht. Über 3000 Jahre sind vorübergegangen und haben manche Zeugen jener Zeit mitgenommen. An schriftliche Mitteilungen aus jener Zeit ist nicht zu denken, dennoch will ich versuchen, eine Antwort zu geben, die uns in etwa befriedigt. Unsere Heimat hat das Antlitz der Steinzeit (siehe Kalender 25). Der Westen von Erle war überzogen mit einem schweren Urwalde. Der lehmige Boden daselbst war undurchlässig. Die natürlichen Abflüsse, die Bäche waren überall durch Bäume verstopft, daher war es hier in der Westrich überall naß und kalt. Welche eine Arbeit wäre notwendig gewesen, mit den noch unvollkommenden Geräten dort eine Lichtung zu schaffen, die zur Anlage eines Gehöfts mit seinen Kämpen Raum geboten hätte! Niemals haben sich die zur Landwirtschaft gezwungenen Jäger und Hirten dazu verstanden. Auch praktisch wäre es nicht empfehlenswert gewesen, mitten im dichtesten Urwalde unter steter Bedrohung der vielen und mächtigen Raubtiere Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben. (Die letzten Wölfe unserer Gegend sind dort erlegt, und Wolfsnetze hangen noch in der Kirche zu Schermbeck). Das ewig unter den Füßen gurgelnde Wasser bedrohte auch die Gesundheit der Bewohner trotz der weitgehendsten Abhärtung und der langen Gewohnheit.

Günstiger lagen die Verhältnisse jedoch im Osten unserer Gemeinde in der Östrich. Das Diluvium hatte hier aus dem Bruche mächtige Sandmassen als lange Dünen hingelagert. Der Sand war durchlässig, warm und lud schon deshalb zur Ansiedlung ein. Der Wald war im mageren Sande wenig üppig und lichte. Es erforderte nur wenig Mühe, hier den freien Raum für das Feld, die Kämpe zu schaffen. Dazu kam noch ein wichtiger Umstand; Das nebenher liegende Bruch bot Weide für das Vieh ohne Arbeit und Mühe. Diesen Vorteilen der Östrich werden die Ureinwohner gefolgt sein und haben sich dort als erste sächsische Bauern niedergelassen. Auch der Name „Erle“ scheint das zu beweisen. Erle bedeutet Bruch, Moor, Niederung, Nebel. (Goethes „Erlkönig“). Von Bente aufm Huck im Norden bis Schulze Huckels im Süden reihte sich Gehöft an Gehöft. „Huck“ hat eine doppelte Bedeutung, man versteht darunter Ecke und auch eine kleine Erhöhung. (Ich erinnere an „in de  Hucke sitten“ und an „Huckepack“. Den bei Schulze Huckels leider so unschön in „Huxsel“ verunstalteten Namen , findet man in alten Kirchenbüchern in Erle und Rhade noch in seiner Urgestalt „Huckels“). Eine ganze Sippschaft, die durch Verwandtschaft, Freundschaft und andere Bande verbunden war, hat sich hier in der Östrich schon sehr früh, sicher vor der römischen und christlichen Zeit, niedergelassen und gemeinsam Besitz ergriffen nicht nur von dem sandigen Höhenzuge, sondern auch von dem grasreichen Bruche und dem weiter nach Westen liegenden Urwalde als Jagdrevier. Gemeinschaftlich blieb ihnen Weide, Holzung und Jagd, besonderes Eigentum war ihnen Haus, Hof und Kämpe. Die Höfe lagen um das Haus, waren mit Eichen bepflanzt und von einem Erdwalle eingeschlossen. Dieser Erdwall war nach der Hofseite senkrecht und etwa 1 ½ Meter hoch und war wiederum mit Eichen und Buchen bewachsen. Wo der Sand den senkrechten Aufbau nicht zuließ, da wurde mit Flechtwerk nachgeholfen. Etwa zwei Tore hatte der runde Hof, die mit „Hecken“ oder Schlagbäumen geschlossen werden konnten. Reste diese uralten Einfriedung haben sich bis in unsere Zeit erhalten und geben den Höfen ein besonders däftiges und würdiges Aussehen. Die Sippschaft fühlte sich wie eine Familie und ihr Besitztum, ihre Welt, verteidigten sie einmütig gegen fremde Einbrüche und Zugriffe. Sie standen jedoch auch mit den benachbarten Siedlungen in Verbindung, wie die uralten Landstraßen und Wege zeigen.



Diese Wege beweisen auch die Richtigkeit meiner Annahme, daß die Bauerschaft Östrich die Ursiedelung von Erle bildet. Bei „Bente aufm Huck“ mündet ein Hauptweg vom Westen, Dämmerwald, von Raesfeld, von Marbeck und von Heiden, bei Böckenhoff kommt die uralte Landstraße von Borken, bei Punsmann und Huckels läuft je eine alte breite Straße von Üfte  und Altschermbeck ein. Östliche der Östrich führt zwischen Siedelung und Bruch eine breite, alte Landstraße von Borken nach Dorsten über das Bakeler-Feld mit einer Abzweigung über Deuten, Wulfen nach Haltern. Das ganze Netz alter Wege geht gerade auf die Östrich zu, ohne sich um das Dorf zu kümmern. Es ist mir dies ein Beweis, daß die Wege früher da waren als das Dorf. Dasselbe beweisen umgekehrt die Wege von der Bauerschaft Östrich nach dem Dorfe. Diese sind verhältnismäßig alle schmal und von untergeordneter Bedeutung, erst dann angelegt, als das Christentum die Kirche errichtet und das Ringdorf sich gebildet hatte. Die Kunststraße Erle-Rhade ist ein Produkt der neuesten Zeit und war vor der Chauffierung nichts mehr, als die Wege von Oendorp und Punsmnann nach dem Dorfe. Mit der Errichtung des Dorfes wird der Name „Erle“ wohl mehr für das Dorf in Anspruch genommen worden sein, die Ursiedlung wurde im Gegensatz zu der später im Westen entstandenen merowingischen Siedelung, die man „Westrich“ nannte, nunmehr mit „Östrich“ benamset. Tatsächlich paßt der Name „Erle“ (Bruch-Sumpf) für das hoch auf einer Grundmoräne des Diluviums gelegene Dorf nicht; er ist von der Ursiedlung am Bruch entlehnt.

Als dritter Beweis für die uralte Siedlung mögen uns die Hofnamen dienen, die in die altsächsische Götterlehre hinweisen. Der Hauptgott der alten Sachsen war Wodan oder Bodan, Guodan, der auch Bakel genannt wurde. In keiner Sachsensiedelung fehlte ein ihm geweihter Hof, Platz oder Stein, auf welchem in den heiligen Nächten ihm Opfer dargebracht wurden und die ganze Siedelung sich zum Opfermahle versammelte, Gemeinschaftsangelegenheiten beriet, Streitigkeiten schlichtete, junge Männer wehrhaft machte und Paare vermählte, (Mahl), kurz und gut das „Ding“ hielt. Dieser Hof war der in der Mitte der ganzen Siedlung gelegene Böckenhof (früher Bakenhof) mit seinem Bonen- und Goudenkamp, mit seinem Teufelstein und Hilgenberg. (Über die Sage vom Teufelstein siehe Heimatkalender 1925 von Jakobine Spangemacher). Etwa 300 Meter nach Westen stand bis 1911 noch der Bakelbaum, eine gewaltige Eiche mit halbkugelförmiger Krone. Diese Eiche mochte einst im Leiken den Eingang zum Wodanshain bewachen. Der Blitz hat sie zersplittert. Es wäre zu wünschen, daß an dieselbe Stelle ein junger Bakelbaum gepflanzt würde. Der nächste Hof nach Norden ist Grewing. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Name „Grevink“ geschrieben und bedeutete das „Ding“, d.h. Besitztum des Greven. Der Greve hatte auf der Mahlstatt, dem „Ding“ Recht zu sprechen. Der Hof zwischen Bakenhof und dem Teufelstein hieß Brand, ehemals Brandes. Brandes bedeutet bei den alten Sachsen aber Schwert und auch Feuer oder Brand. Ob der Brandes besondere Verpflichtungen bezüglich des Feuers bei den Wodansopfern zu übernehmen hatte? Für das Buchenholz schien gesorgt zu sein. Mitten im Östricher Feld steht noch das Überbleibsel eines einst größeren Buchenhains und heißt bis auf den heutigen Tag nach „Buschgöte“ = Götterbusch. Dank der unverfälscht beigehaltenen Hof- und Flurnamen haben wir hier im Mittelpunkt der Siedlung noch starke Hinweise auf den Wodansdienst. Im Norden, jedoch vor Bente aufm Huck, liegt der Hof Oendorf. (Im 17. und 18. Jahrhundert auch vereinzelt „Oentorp“; auf den Meßtischblättern sogar Oendorf.) Oentorp heißt das Dorf des Odin. Vor diesem Hofe liegt wie vor dem Bakenhofe auch ein freier Platz, worauf vielleicht besondere Versammlungen oder auch Dinge abgehalten wurden. Zu dem Dorp, d.h. der Siedlungsgruppe, gehörten die Höfe Tenekink, (später Tenek, dann Tenk, jetzt Beckmann), Weitenberg und „Rikkart“=Richard, jetzt Sondermann. Vom Bakenhofe nach Süden liegt der alte Hof Sundorp oder Suentorp (jetziger Besitzer Garf v. Merveldt zu Lembeck). Den Namen kann mal als Sonnendorp oder wie andere wollen, als Südendorp deuten. Auch hier finden wir im Knotenpunkt vieler Wege einen freien Platz wie bei Oendorp. Zu dieser Siedelungsgruppe, dem „Torp“ gehörten die Höfe Joest, Punsmann, Ribbekamp, Horstmann und Budden. Westlich vom Buddenhof lag der „Korroniguaden“. Noch heute steht der Name so im Kataster. Vielleicht wurde in der späteren karolingischen Zeit auf diesem Platze von der gesamten Siedelung die „Kornoten“ gewählt, das waren jene geachteten Männer, die später an der Stelle des gesamten Umstandes auf dem Ding den Wahrspruch zu sprechen hatten.

Seit dem Einbruche der Römer nannten sich die Sachsensiedelungen auch vielfach „Hundertschaften“=Gemeinden. Als solche berieten die wehrfesten Männer auch ihre Angelegenheiten stets gemeinschaftlich unter freiem Himmel. Ein solcher Beratungsplatz scheint der Hunnemannsberg=Hundertmannsschaftsberg nördlich von Bente aufm Huck an einem Wegeknotenpunkt gewesen zu sein. Der entgegengesetzte südliche Huck nähert sich dem großen Bakelerfelde, wo mehrere Hundertschaften fast zusammenstoßen. Vielleicht war das Bakelerfeld der Versammlungsort des Gaues.

Außer der geschlossenen sächsischen Gemeinschaft der Östrich, müssen wir noch zwei Höfe als uralte sächsische Niederlassungen nennen: „Olthueß de Sceiper“ und „Aßkamp“. Der erste Hof wird stets in alten Urkunden „Sceiper aufm Wall“ genannt. „Aufm Wall“ erinnert sehr stark an „Wallenkamp“ und Wallenkamp an Walakamp=Kamp der Priesterin. Ist der Sceiper aufm Wall etwa ein Teil der Besitzung der Wala gewesen und als solcher weniger Beziehungen zu der Erler Hundertschaft gehabt? Tatsache ist, das Schäper aufm Wall bei der Verteilung der Allmende nicht berücksichtigt wurde. (In der Copia Protocolli etc von 1786 wird Schäper aufm Wall nicht aufgezählt). Auch die späteren Siedler „aufm Wall“ hatten eigene Rechte und eigene Pflichten – nicht gemeinsam mit den Erlern. Der Assenkamp, auch Asenkamp und jetzt Askamp geschrieben, ist nach seinem Namen „Asenkamp“ Kamp der Asen oder Götter von untergeordneter Bedeutung. Die Götterstätte wird auf der Wehme unter der Ravenseiche vermutet. Die ursprüngliche Ausdehnung dieses Hofes ist in der vorchristlichen Zeit wahrscheinlich außerordentlich groß gewesen und wird wohl alles umfaßt habe, was der Urwald damals in der Westrich freiließ.

Fast sämtliche alte Sachsenhöfe haben noch Teile ihrer prächtigen Walleinfassung, die mit Eichen und Buchen bestanden sind; - wie unendlich nüchtern wirkt dagegen der magere Drahtzaun! Auch das alte „Hecke“ kann niemals durch eine eiserne Tür als gleichwertigen Hofverschluß ersetzt werden. Diese Überreste einer grauen Vorzeit im Verein mit den treu überlieferten Hof- und Flurnamen geben uns in der Östrich das Bild einer altsächsischen Gemeinde in ihrer Religion und Organisation. Man erkennt aus den Namen das alte Sachsenland wieder. Hier auf dem Sande am Sumpfe war die erste Siedelung in unserer Gemeinde und die nannte sich „Erle“.

Den letzten, untrüglichen Beweis liefert uns aber die einfache, schlichte, braune Heide. Der magere Heide-Sandboden hat die Nachmenschen niemals sonderlich angelockt, mit Schaufel und Hacke in denselben einzudringen. Die Heide liegt meistens noch ganz in ihrer Urform da. Die braune Heidedecke hielt mit ihrem Wurzelgeflecht die Sandkörner fest bei starken Windstößen. Wenn sie zur Einstreu abgemäht wurde, sproßte sie recht bald wieder auf und übernahm ihren Wächterdienst aufs neue. Die Schafsherden belebten sie und der Wacholder stand treu im Novembernebel und Julibrand. Niemand drang tiefer in ihre Sandlager ein. So ist es nun möglich geworden daß sie uns Urkunden aus allen Zeiten der Siedelung treu bewahrt und überliefert hat. Diese Zeugen sind die Hügelgräber, die im Bereich der Östrich von Huckels bis Bente aufm Huck und auch bei Schäper aufm Wall in großer Zahl gefunden werden. Sie dienten in der Zeit des Heidentums den Urbewohnern als Begräbnisstätten. Im Volksmunde nennt man sie wohl „Erdmannsbergskes“, „Hünengräber“ oder auch „Heidengräber“. Hoch auf einem Sandrücken sind sie angelegt worden, so daß man sie vom Bruch, Kamp und Weg erblickte. Umringt von Findlingen waren und sie sie imposante Grabdenkmale, wie man sie nicht schöner denken kann. Zu jedem Hofe gehörten solche Grabhügel und wo sich solche Hügel finden, kann man einen alten Hof in der Nähe vermuten und suchen. Die alten Sachsen verbrannten ihre Toten im Beisein der ganzen Hundertschaft. Während die Sippschaften das Lob des Verstorbenen sangen und um den Verlust klagten, loderten die Flamme und verzehrte den Leichnam. Die Überreste wurden gesammelt und in eine Urne geschüttet. Sie bestanden aus Asche und Knochensplittern. Die Urne wurde dann in den Grabhügel und auch öfter 20 bis 50, ja 100 Meter weit davon in die Erde versenkt. Zu diesem Zwecke machte man ein rundes Loch in die Erde, das eben geräumig genug war, die Urne aufzunehmen. Tiefer als 80 Zentimeter bis 1 Meter ging man nie. Nachdem die Urne mit den Überresten hineingestellt worden war füllte man dann mit der Asche und den Kohlenresten noch nach. Alsdann bedeckte man die Begräbnisstätte mit der ausgehobenen Erde und legte zuletzt noch eine Schicht Steine darüber. Letzteres mochte geschehen, um den lockeren Sand festzuhalten. Es stellt sich ein solches Grab als eine kleine, etwa 30 bis 40 Zentimeter hohe Erhöhung dar, mit einem Durchmesser von etwa 1 ½ bis 2 Meter. Diese kleinen Hügel gruppieren sich um den großen Grabhügel ohne sichtliche Ordnung. Im Jahre 786 gebot Kaiser Karl der Große nach Besiegung der Sachsen auf dem Reichstage in Paderborn: „Wer einen Toten auf heidnische Weise verbrennt, der soll des Todes sein!“ Karls Schwert war scharf und saß locker in der Scheide. Was er drohte, das führte er auch aus. So können wir mit Bestimmtheit annehmen, daß in unserer Gemeinde 786 der letzte Grabhügel nach heidnischer Art aufgeworfen war, zumal unserer Gemeinde Grenzgebiet zwischen den Sachsen und Rheinfranken war Die Kontrolle über die Beobachtung seiner Befehle war hier besonders scharf. Die Ausgrabungen in der Westrich haben mit Bestimmtheit ergeben, daß nach 518 und vor 768 dort eine schwer bewaffnete Kolonie bestanden hat unter den Vorgängern Karls, den Merowingern, die nachweislich christlich waren. Diese christliche Kriegsmacht wird mit allen Mitteln auch das Heidentum bekämpft und namentlich die barbarische Sitte der Totenverbrennung verhindert haben. Mit vollem Recht dürfen die Hügelgräber nicht später als 700 datiert werden.

So alt die Gräber nun sind, so alt sind die dazugehörigen Höfe, denn ohne Höfe gab es auch keine Gräber. Dies allein sagt und beweist uns das Hügelgrab an der Sanddüne. Der Inhalt der Gräber dokumentiert noch viel mehr aus der grauen Vorzeit und sind uns die besten Urkunden. In den Hügelgräbern finden wir Urnen, Knochenreste oder auch kleine Geräte. Die Urnen oder Scherben bekunden uns in ihren Formen, ihrem Material und ihrer Herstellungsweise die Zeit, aus der sie stammen und teilweise auch den Völkerstamm, der sie einst versenkte. Die meisten Urnen in der Östrich stammen aus der vorchristlichen Zeit, sind also vorrömisch. Sie sind aus einem blätterigen, humosen, mit Kieselkörnern vermischtem Material ohne Drehscheibe mit der Hand zurecht gedrückt und haben an der Öffnung keinen besonderen Rand. Sie sind an der Sonne und am Feuer nur leicht gebrannt und haben im Vergleich zur weit ausholenden Bauchung nur eine kleine, winzige Standfläche. Ihre Farbe ist gewöhnlich dunkelgrau, dunkelbraun, oder dunkelblau. Infolge der kleinen Standfläche sind die weitbauchigen ältesten Urnen im Boden schon meistens zusammengesunken. Vielfach habe auch Wacholder, Birken oder Besenpfriem mit ihren Wurzeln die Bestattungsasche erreicht und die unfeste Urne gesprengt und teilweise aufgelöst. Aber auch solche Bruchstücke sind wertvolle Urkunden für die Zeitbestimmung. Als Beigaben findet man in den Urnen öfter kleine Krüglein, Tränenkrüglein genannt, ebenso Gebrauchsgegenstände als Haarzangen und kleine Messer von Bronze. Der Zweck dieser Beigaben war jedenfalls der Wunsch, daß der Verstorbene sich ihrer nach dem Tode in der Walhalla bedienen sollte. Die bronzenen Beigaben datieren das Grab und die Funde in die Bronzezeit etwa 1000 v. Chr. Gräber mit solcher Ausstattung verraten natürlich den einstigen Wohlstand des Hofbesitzers. Ärmere Leute verbrannten ihre Toten und bestatteten die Überreste in einem Leinenbeutel und man findet nunmehr nichts als Asche und Knochensplitter. (s. Koenen „Gefäßkunde“). Schon in der Bronzezeit bauen die Urbewohner die Urnen weniger bauchig und etwas höher, das Material ist haltbarer und fester; sie versuche schon den oberen Rand nach außen umzubiegen und verschmierten das Gefäß außen oft mit einem zähen, hellbraunen Schlamm, der mit Kieselkörner gemischt ist und machen auf diese Weise die Urne haltbarer. Solche Gefäße haben sich im Sandboden meistens gut erhalten und können unbeschädigt gehoben werden. Es sind in der Östrich schon manche Urnen und Scherben geborgen worden, noch vielmehr sind aus Unwissenheit zerstört und achtlos weggeworfen. Die Mehrzahl der Gräber sind aus der vorchristlichen Zeit, einige sogar aus der Steinzeit wie ja auch bei Weitenberg ein Steinbeil gefunden wurde – demnach ist die Östrich Jahrtausende vor Christi Geburt bewohnt und besiedelt gewesen. Jeder Hof in der Östrich und der Herrlichkeit überhaupt muß doch ein Interesse daran haben, wo seine Vorfahren ihre Toten verbrannt und eingegraben haben, falls die Besitzung eine Anspruch auf eine lange Reihe von Ahnen machen kann. Zu diesem Ziele wird auch jeder Hofbesitzer leicht gelangen, wenn er bei Erdarbeiten jeden Fund aufmerksam aufhebt und beurteilen läßt und nie verschweigt; auch diese älteste Urkundensammlung wird einmal erschöpft sein und dann ist uns die fernste Zeit auf immer verschlossen. Häufig findet man die Hügelgräber schon leer und ihres Inhaltes beraubt. Die kreisrunden Erdhaufen sind aber immerhin Denkmale der Urbevölkerung, die ihre Toten nicht fürchtete, sondern liebte und in hervorragender Weise ehrte, die ihre Toten darum nicht verbarg, sondern an hochaufragenden, weitausschauenden Punkten, an belebten Verkehrswegen oder blanken Bächen in dem reinsten Sande bestattete. Ehren wir sie weiter!

Zum Schlusse drängt sich noch eine Frage auf: Wo mag die Östrich ihre Toten begraben haben, als die Verbrennung untersagt und verhindert wurde? Bis zur christlichen Regelung dieser Frage wird es noch lange gedauert haben, denn von einer Pfarrkirche in Erle hört man erst 1280. Funde zur Aufklärung dieser Frage sind meines Wissens nicht bekannt geworden. Drei Hofnamen aus alter Zeit lenken unsere Aufmerksamkeit auf sich: Benning (=Beending) Ribbekamp und Budden (=Knochen). Diese Höfe verteilen sich auf den nördlichen, mittleren und südlichen Teil der Östrich. Wenngleich nicht erwartet werden kann, daß noch Überreste der Skelette im lockeren Sandboden sich zeigen, so kann man doch hoffen, Grabgefäße und spärliche Beigaben vereinzelt zu finden, falls der Boden in gehöriger Tiefe zufällig angegriffen wird. Bei den Merowingern und Franken war eine reiche Grabausstattung Gebrauch, sie werden diese den Sachsen auch nicht verweigert haben. Auf den genannten Höfen möge man auch den kleinsten Fund aus der Tiefe aufmerksam heben und beurteilen lassen.

Jahrhundert auf Jahrhundert hat nur Wodans schwarzer Vogel seine Kreise über die Hügelgräber und die uralten Höfe gezogen und in den Hofeichen gehorstet. Als der Frühling 1925 die Birken grün machte, da kam ein ganz gewaltiger silberiger Junkers-Adler und baute am Bakeler Feld seinen Horst. Majestätisch zieht er seine Kreise und Wege im blauen Äther und kehrt wieder heim von langem Fluge in die Nachbarschaft der alten Sachsensiedlung. Wir sind ihm nicht feind, sondern schauen bewundernd zu; er horstet friedlich und greift nicht an. Möge auf dem Bakeler Felde altsächsische Naturwüchsigkeit, Kraft und Vaterlandsliebe sich vermählen mit neudeutscher Intelligenz, Wissenschaft und Technik! Ich glaube, es würde eine echte Art.
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Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth und Julius Lammersmann hier gezeigt. Das berechtigt aber nicht zu der Annahme, das dieser im Sinne des Urheberrechts als frei zu betrachten sei und daher von jedermann benutzt werden dürfe. Alle Rechte liegen weiterhin bei den Erben von Heinrich Lammersmann.