Die Kannune - Kindheitserinnerungen um 1870 aus Erle
von Hauptlehrer Heinrich Lammersmann
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Kaum behoset, wanderte ich vorläufig nur bei Tage, aus dem väterlichen Hause aus und zog in die großväterliche Behausung. Es lagen mehrere Gründe für dieses Beginnen vor. Daheim hatte ich es mit 4 Schwestern zu tun und ich stand allein, 4 zu 1 war eine ungünstige Kräfteverteilung. Im Hause meines Großvaters hatte ich eine ganz andere Stellung. Großvater war 70 Jahre, der älteste Sohn, mein Onkel, war noch nicht geheiratet, es waren keine Kinder da. Großmutter hatte ich nie gekannt und an ihrer Stelle versah eine Tante Pauline den Haushalt. Der weiße Pudel „Fix“ mit der roten Nase war mein spezieller Freund und lag am selben Eck des Herdfeuers, wo ich mich gelagert hatte. Großvater aber saß mitten vor dem Herde mit seinem gedrechselten Stuhle auf den kleinen Steinchen des Fußbodens, just dort, wo mit weißen Bachkieseln die Jahreszahl 1612 eingelegt war. Er hatte das Blaserohr in der Hand und schob damit nach und nach die angebrannten Holzteile auf die Feuerkuhle. In dieser Tätigkeit war ich gern behilflich, mit der Hand die am Ende glühenden Stöcke weiter in die rote Glut zu schieben. Eine ehrende Aufgabe war es, wenn ich für Großvaters kurzes, irdenes Pfeifchen eine glühende Kohle mit der Feuerzange fassen und in die harten Hände des alten Mannes legen durfte. Schüttelnd legte er sie bald auf den angebrannten Tabak und einige tiefe Züge setzten das Pfeifchen wieder in Glut und Großvater in Behaglichkeit. Fing der Kuhkessel an zu singen, so war es mit der Herrlichkeit des Herdfeuers vorbei Es wurde dann kein Holz mehr zugelegt, die Brände wurden zusammen unter den Kessel geschoben. Der Großvater nahm einen armdicken Hahlbaum, faßte damit unter den Henkel und legte das eine Ende auf die Herdplatte, während er mit der linken Hand den Kessel hob und „Hahl“ entlastete, faßte er mit der rechten Hand den Knopf des Hahles und ließ den Kessel bis dicht auf die Glut herunter. Nun erstarb bald die lustige Flamme und mit ihr verschwanden auch wir. Einige Striche mit dem Reiserbesen brachten die umherliegenden Zweige und Stöcke in die Holzecke. Das Blaserohr wurde rechts an das Müerchen gelehnt und die Feuerzange daselbst aufgehängt. Großvaters Pfeifchen hatte seinen Platz vor dem Busen bei den zinnernen Tellern, solange es auf der Tenne und in den Ställen zu arbeiten gab. Den Stuhl aber rückte er (Großvater) vom Herde fort zwischen Glockenkaste und Schabelle (Klapptisch). Dem Herde gegenüber in der Wand war ein Wandschrank mit schweren eichenen Türen. Er eichte bist etwa ein Fuß von dem Küchenboden und barg die Gegenstände des täglichen Gebrauches für Küche und Tisch.

Dazu gehörte auch die „Kannune“. Ja, die „Kannune“ regte meine Tätigkeit mächtig an und brachte Selbstbewußtsein, ich möchte fast sagen Stolz, in mein kleines Herz. Die Kannune war nämlich eine Flasche für Gefte (Hefe). Aber eine solche Flasche, wie diese Kannune, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht wieder gesehen. Wäre sie heute noch da, ich würde sie erwerben. Sie war ein ganz altes Familienstück. Wie man sagte, war sie Jahrhunderte in der Familie und immer tat sie noch ihre Dienste. Die Flasche bildete eine Halbkugel, darauf saß ein langer gerader Hals zum Fassen und Gießen. Aus dickem, grünen Glase war sie hergestellt. Ihre Wandung war so stark und widerstandsfähig, daß ein Sturz in die steinichte Küche oder ein Fall auf den Erdboden sie unbeschädigt ließ. Sie war unzerbrechlich. Mit dieser Kannune in der Hand reiste ich um das Kirchhofsgitter in die Brennerei, um die für die Backkunst so nötige Gefte zu holen. Dort stand wieder eine neue Welt vor meinen Augen und mein Freund Hubert war da zu Hause. Ich gab dort die Kannune ab mit samt den eingewickelten Pfennigen. Doch so einfach ging das Geschäft nicht. So ohne weitere Kunstarbeit bekam ich meine Kannune nicht wieder. Es war dort ein Paul, groß und stark, der faßte meine kalmukene Hose, hob mich wohl gar auf den Rand des Bottichs oder ließ mich auf dem Helmarm des Braukessels reiten und was solcherlei Sachen mehr waren. Dann bekam meine Kannune Hefe mit einem festen Stöpsel und ich einen Zwieback und allseitig zufrieden, trat ich die Reise ins Großvaterland an. Dazu war natürlich Zeit erforderlich und ein bellender Köter konnte die Ankunft so gut verzögern, wie einstens der Sturm auf dem Ozean die Ankunft der Segelschiffe in Amerika. Meistens stand Tante Pauline wartend vor der halbgeöffneten Türe und blies neuen Wind in meine Segel.

Wurde unsere Ankunft nicht so sehnlich erwartet, dann gab die Kannune mir das, was die große Welt erst viel später erhielt, ich meine das Kino. Der runde Bauch der Kannune und die dunkelgrüne Farbe des Glases nahmen die ganze Umgebung wundervoll klar und schön als Spiegelbild in sich auf. Ja noch stolzer als die Wirklichkeit, im Rücken gelehnt, erschien mir die Welt. So hob ich sie mit beiden Händen in Augenhöhe und wanderte. Es zogen nun an beiden Seiten die Bilder meiner Welt durch die wunderbare Kannune in magischer Färbung und kindlicher Lebendigkeit. In der Tat das erste Kino meines Lebens. Doch ganz ungefährlich war dieser Kinogenuß auch nicht. Um den Kirchhof war der Weg zur damaligen Zeit noch schmal und beschränkt. Zudem hatte fast jede Wohnung vor ihrer Tür ein sogenanntes Aschenloch. Da hinein wurden Asche, Kehrricht und Abfälle geworfen; abends nahmen die Leute dort verschwiegen Stellung, ehe sie zur Ruhe gingen. Kam die Buchweizensaat mit Urbanus ins Land, dann wurden auch diese unschönen Löcher entleert und so die Zahl der Fallgruben bedeutend vermehrt. Im Genusse der wandernden Bilder kamen die Füße oft ein eine solche Fallgrube und die Kannune flog in einem Bogen weit über den Weg und machte so ihren Namen alle Ehre, ich aber fand mich in der duftenden Grube wieder, rieb die gestoßenen und geschundene Körperteile zurecht und ging dann meiner Kannune nach, die ganz und heil mit oder ohne Inhalt meine Ankunft erwartete, hob sie auf und trug sie zum Ziele weiter. Der weiße Fix kam mit halbwegs schwanzwedelnd entgegen; wir begrüßten uns als lang geschiedenen Kameraden und raten durch die zweiteiligen Haustür in das Haus. So war der Dienst mit und an der Kannune meine spezielle Angelegenheit allein.

Daß dieser aber meinen kleinen Lebenskreis nicht füllte, kann man denken; aber es gab dort noch vieles, was das Herz eines kleinen Jungen höher schlagen ließ. Es dort seit Anfang des 16. Jahrhunderts eine Schreinerwerkstatt; was dort geboten wurde und mir zuteil geworden ist, geht nicht aufs Papier. Der schöne Obsthof mit den tragbaren Bäumen, der Speicher mit dem Backofen, die Schuppen und Ställe, die landwirtschaftlichen Geräte, alles war für mich anziehend. So habe ich mich nie gelangweilt. Ab und zu durfte ich mit Erlaubnis meines gestrengen Vaters auch bei Großvater übernachten. Das geschah dann im Kastenbett an der Herdseite. Vom Kastenbett aus sah ich in das Herdfeuer und hörte die Gespräche, bis meine Augenlider sich zum tiefen Schlummer schlossen. Vom Kastenbette aus sah ich im Juli 1870 den Abschied in den Krieg. Zwei seiner Söhne sandte Großvater hinaus. Die große Schützenfesttrommel hatte man aus der Wirtschaft Wollberg hervorgeholt und dröhnend marschierte man um das alte Kirchlein. Nach und nach sammelten sich die Reservisten mit ihren Päckchen. Es ging sehr laut her und man fuchtelte mit den Armen herum bis die jungen Vaterlandsverteidiger abends gegen 11 Uhr mit der Trommel in die Heide auf Dorsten-Recklinghausen abzogen. Großvater sah ihnen feuchten Auges nach bis die blauen Kittel in der nächtlichen Dämmerung untertauchten und Tante Pauline weinte laut schluchzend. Ich verstand dies Gebaren all der Leute nicht recht, vermißte aber die beiden Vaterlandsverteidiger. Vater und Mutter kamen nun häufiger zu Großvater und ich durfte nun immer länger bleiben. Die Werkstatt stand leer. Das war für mich ein gewaltiger Ausfall. Diese Verödung wurde durch die bald beginnende Obsternte in etwa ausgeglichen.

Da eine Staffette; Täterätätätät! Vom dampfenden Pferde verkündet der Eilbote den Sieg der Deutschen und die Niederlage der Franzosen sowie die Verluste. Rasch werde Stellungsbefehle ausgegeben für Reservisten, dann geht es in rasendem Tempo auf Raesfeld-Borken. Sein blankes, helles Horn gefiel und kleinen Jungen am besten. Als nach kurzer Zeit die Verlustlisten eintrafen, da wurde Vaters Stübchen nie leer. Doch blieb Erle verschont.

Bald hieß es „Napoleon sitzt in der Mausefalle!“ und dann kam Sedan mit der Friedenshoffnung. Wie oft hörte ich den Frieden am Herdfeuer besprechen und wie glänzten dann hoffnungsvoll die guten Augen meines Großvaters; er vergaß dann nie neues Holz aufzulegen, damit es recht hell und fröhlich brannte. Als der Friede aber endlich kam, da gab es aber Freude im Dorfe. Die Böller knallten und alle Glocken läuteten ununterbrochen und die Leute liefen im Dorfe zusammen. Wir Kinder zogen umher, die Schürzen der Mädchen an Bohnenstangen gebunden als Fahnen und immer wieder aus Leibeskräften singend; „Friede, Friede de de de de.“ Dann kam die Heimkehr in das geschmückte Dorf; zuerst die Landwehr auf Erntewagen, dann die Reserve und zuletzt die Linientruppen. Es kamen aber auch ansteckende Krankheiten mit, an denen in der Gemeinde mehr starben, als im Krieg gefallen waren.

Jakobitag 1872 war ein schlimmer Tag für das Dorf Erle und brachte das Ende meiner Kannune. Hell schien die Sonne. Die Sensen erklangen und die Erntewagen rollten auf die Tennen. Mit meinem Vater kam ich vom Platze her auf das Dorf zu. Da dröhnt auf einmal die Brandglocke, aus dem Dorf herüber erschallt Geschrei und Gejammer. Sobald unser Blick frei auf das Dorf fällt, sehen wir eine ungeheure schwarze Rauchwolke aufsteigen. Die rote Lohe machte diese unheimliche Wolke noch schrecklicher. „Mein Gott!“ ruft mein Vater und läuft von mir fort dem Dorfe zu, den Unglücklichen zu helfen. Weinend bleibe ich stehen und glaubte, es wäre unser Haus, bis Frauen mir sagten, daß es das Haus Wolberg sei und mich zum Dorfe mitnehmen und an die Familie abliefern. Wie schrecklich! Die Ziegel klapperten, die Scheiben klirrten, die Sparren bäumten sich glühend und stürzten dann in die Tiefe. Da auf einmal ein großes Geschrei. Der Schornstein war gezogen und lag auf Balken, als diese durchgebrannt waren, stürzte er in die unteren Räume. Hier waren noch Leute beschäftigt, die Habseligkeiten zu bergen. Man flüchtete! Doch zu spät. Die Steine schlugen einen Mann so schwer, daß er wenige Tage später starb. Der Brave hieß Herz Cahn. Man brachte den Verunglückten auf einem Stuhle in seine Familie. Auch dies Unglück. Als das zweistöckige Haus Wolberg zusammenfiel, sprang das Feuer auf das Nachbarhaus Böckenhoff (jetzt Schneemann) über. Es stand nun auch die alte Kirche in Gefahr, da Böckenhoff nur wenige Meter vom Chor der Kirche entfernt war. Während das Dach von der Wirtschaft Böckenhoff brannte, fing auf die Chorspitze der Kirche Feuer. Das eiserne Kreuz glitt über das Schieferdach zu Boden und schlug tief in die Gräber ein. Da erhebt sich wieder Geschrei. Ein Stück brennenden Speck ist aus dem Dachgeschoß Böckenhoff auf das uralte Haus Heidermann geflogen und hat augenblicklich gezündet. In ganz kurzer Zeit ist das Holz in voller Glut und de Rot auf den Gipfel gestiegen. Auf dem Turme wimmern alle Glocken. Das Wasser in dem Brunnen ist verbraucht. Alle Gespanne schleppen auf Leitern und Schlitten  in großen Kübeln Wasser aus Tellmanns-Poth und Meis-Benn herbei. Raesfeld kam mit seiner Spritze und seinen Leuten zu Hilfe. Da gelingt es, die Kirche zu löschen und die Nachbarn zu schützen.

Als der Abend sich senkte, lagen drei Brandstätten rauchend um das Kirchlein und am Kirchlein selbst war die Spitze am Dache über dem Chore abgebrannte und die Sterne schauten auf das Gewölbe.

Mein Großvater saß am Abend auf einem Findling vor dem Schuppen. Es war zu viel für den alten Mann: Krieg und Brand. Der Herd, das Kastenbett, die Werkstatt, alles lag in Trümmern und das Feuer fraß noch an den dicken geschnitzten Balken. Am Hahle hing noch der Topf mit dem Mittagsmahle. Topf und Hahl waren noch rot von der Glut. Der Blum-Süßches-Baum hielt die geschmorten Früchte an den verbrannten Zweigen in die leere Luft. Es war ein grauenvoller Anblick.

Nach einiger Zeit räumte man die Brandstätte. Auf den kleinen Steinchen der Küche, dort wo der Küchenschrank gestanden hatte, fand man in der Asche einen dunkelgrünen Klumpen vermischt mit Asche und Schutt. Es war die Kannune. So hatte die gewaltige Glut ihr Ende herbeigeführt; keine rettende Hand war ihr gekommen in der allgemeinen Verwirrung. Man besieht ihre formlose Masse und bedauert das Ende der Alten. Ich stehe hinter der Arbeitern und habe die Masse noch einmal in die Höhe. Ihr Glanz ist erloschen. Kein Bild erscheint mehr auf der Fläche; zu keinem Dienste ist sie mehr fähig. Ich trage sie aus der Schuttmenge hinweg und lege sie auf einem Stein am Schuppen. Wölkchen zogen über meinen blanken Jugendhimmel. Manches Liebe war mir genommen: die Kannune, der Herdplatz, das Kastenbett, die Werkstatt und Großvaters altehrwürdiges Haus.

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Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth und Julius Lammersmann hier gezeigt. Das berechtigt aber nicht zu der Annahme, das dieser im Sinne des Urheberrechts als frei zu betrachten sei und daher von jedermann benutzt werden dürfe. Alle Rechte liegen weiterhin bei den Erben von Heinrich Lammersmann.