Die Franzosenzeit und der Kosakenwinter
von Hauptlehrer Heinrich Lammersmann 1930
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Was der Großvater am Herdfeuer erzählte, ist leicht zu sagen. War in den letzten Wochen kein Viehhändler dagewesen und hatte Kühe, Ochsen oder gar Pferde gekauft, dann waren es alte Erlebnisse aus seiner Jugendzeit und besonders aus der Franzosenzeit und dem Kosakenwinter. Großvater war 1804 geboren, er hatte als Junge jene aufgeregte, böse Zeit erlebt. Manches wußte er noch vom Urgroßvater, der um 1760 geboren war und die französischen Emigranten (Flüchtlinge aus Frankreich) hatte durch die Heimat ziehen sehen. Von der Regierung des eigenen Landes hörte ich nie reden. Anscheinend kannte man auch nichts davon. Zeitungen waren nur sehr selten und kamen nur in die Häuser der Reichen und Gelehrten. Der häufige Wechsel der Landesherrschaft mochte die Leute in Verwirrung gebracht haben. Die Franzosenzeit und der Kosakenwinter, die saßen unauslöschbar im Gedächtnis der Alten und lieferten mit ihren heiteren und grauenhaften Geschichten den Stoff für die Erzählungen in unerschöpflicher Reihenfolge.

Vor dem Kriege erschrak man, aber vor den Franzosen hatte man keine sonderliche Angst. Sie waren schon keine Fremdlinge mehr in unserer Herrlichkeitsheimat. Im siebenjährigen  Kriege hatten sie unsere Heimat lange Zeit besetzt. Solange lagen die Truppen hier, daß ein französischer Soldat für den Hof Rickert in der Oestrich eine schöne Küchenstanduhr machte. Jedes Teilchen dieser Uhr war Handarbeit. Bis vor einigen Jahren hat diese Uhr noch ihren Dienst versehen. Auf dem Zifferblatt war noch ein schönes Bildchen von einer Tafelrunde gemalt. Diese Arbeit zeigt uns schon, wie die Einquartierung sich zu den Quartiergebern stellte.

Die französische Revolution verjagte Tausende von Priestern, Mönchen und Adeligen. Mit den zusammengerafften Resten ihres Vermögens, strebten alle diese Unglücklichen dem katholischen Münsterlande zu, um dort bei den Glaubensgenossen eine vorläufige Bleibe zu finden, bis die Ruhe und Ordnung in der Heimat wieder hergestellt sei. Solche Emigranten wohnten bei Lütten und Kniffmann in der Westrich. Bei Lütten war es ein gelehrter Pater, zu dem die Leute viel Vertrauen hatten und sich Rat holten in Rechtsgeschäften und Krankheitsfällen. Er soll sogar behexte Tiere und Menschen befreit haben. Das Pastorat war vorübergehend auch häufig belegt mit flüchtenden Geistlichen und Ordensleuten, die auf Münster weiterzogen. Manche Franzosen blieben auch zurück und machten sich ansässig, trieben ein Gewerbe oder Handel und galten unter den Bewohnern der Heimat als Gleichberechtigt. Sie verstanden es sehr gut, sich durch ihre Geschicklichkeit und Handfertigkeit, durch ihre Lebendigkeit und Freundlichkeit, sich den langsamen Westfalen anzubiedern und sich einzuheiraten.
Als nach dem Frieden von Tilsit 1807 Napoleon unsere Heimat seinem Reiche einverleibte, da fand er in den Bewohnern keine großen Widersacher. Die Durchziehenden wußten für ihren Kaiser Begeisterung zu entfachen. Auf dem Hofe Stegerhof war ein Porzellan-Teller von einem französischen Soldaten zurück gelassen. Auf dem Rande desselben standen eine ganze Anzahl von Schlachtennamen in Lorbeer- und Eichenkränzen, die Napoleon siegreich geschlagen hatte. (Der Teller ist leider in den Besitz des verstorbenen Winterschuldirektors B. Hinsken übergegangen.) Der einzige Sohn und Hoferbe des Hofes Prien in der Westrich war so von dem Soldatenleben begeistert, daß er täglich seine Eltern quälte, um die Einwilligung zum Eintritt in die französische Armee. Alle Bedenken seiner alten Eltern schlug er in den Wind; bei seinen landwirtschaftlichen Arbeiten übte er sich schon: klopfte Griffe mit Gabel und Schaufel, marschierte hinter dem Pfluge und ritte militärisch vom Felde nach Hause. Mit schwerem Herzen mußten die Eltern den Jungen zu Willen sein. Er wurde nach Frankreich geschickt, dort ausgebildet und zog mit dem französischen Heere nach Spanien. Lange hörte man nichts von ihm. Nach vielen Monaten soll dann ein Brief eingetroffen sein, darinnen geschrieben stand, daß der Sohn „sehr tapfer gekämpft, schwer verwundet worden und dann jämmerlich verbrennet worden sei“. Man erzählte, die Eltern hätten trotz dieser Nachricht noch immer auf die Heimkunft gewartet, wären bei jedem Heckenschlag aufgesprungen und ans Fenster geeilt, um zu sehen, ob der Ankömmling nicht der erwartete Sohn sei. Frühes Siechtum der beiden Alten und Interesselosigkeit an der Verwaltung des Hofes waren die anderen Folgen dieses Jugendstreiches.

Man sieht, wie Napoleons Siege, seine Gerechtigkeit und Fürsorge für die wirtschaftlich schwache Klasse die einfachen Leute in den Bann schlugen. Mit einem Federstrich befreite Napoleon die Leute von den althergebrachten Hand- und Spanndiensten, die sie den Pfarrhöfen und zum Teil auch dem Grafen zu Lembeck zu leisten hatten. Das gefiel. Der Pfarrer von Erle hatte eine große Landwirtschaft. Ein jeder Bauer mußte „einmal beim Gras und einmal beim Stroh“ morgens um 7 Uhr mit seinem Gespann auf dem Pastorat erscheinen und seine Dienste leisten. Jeder Kötter mußte morgens schon um 6 Uhr antreten und Handdienste leisten. Das war nun vorbei. Der Pfarrer stand nun ohne Hilfe und war gezwungen, sich Knechte und Pferde zu halten, um aus dem Acker seinen Unterhalt zu ziehen. Die Dienstleistungen kamen auch nach dem Befreiungskriege nicht wieder. Die Pastöre der Herrlichkeit wurden dadurch so geschädigt, daß sie ihre ganze Haushaltung auf den vollständigen Betrieb der Landwirtschaft mit Knechten und Mägden einstellen mußten. Auch mußten die Pfarrhäuser zum Teil umgebaut werden, um den Betrieb unterzubringen. Als man von Münster den Rat gab, gegen die Leute zu prozessen, erklärten die Pastöre der Herrlichkeit, sie würden nicht gegen ihre Pfarrkinder ans Gericht gehen. Pastor Lohede schreibt: „Weil ich die Spanndienste von den wenigsten erhalten konnte, habe ich, um den Besitzstand zu erhalten, meine Klagen beym Hochw. Vicariat und Bürgermeister Grüter halfen nichts – war die geringe Entschädigung von 1/8 rx klevisch von jedem Bauer ausbedungen, da sie alle bei Wolberg versammelt waren, und am Ende dann mit ein Pferd und Ackergerähte angeschafft, dazu habe ich ohne Entschädigung den Scoppen vergrößert und den Pferdestall im Hause machen lassen, weil ich darum nicht erst Supplizieren konnte. Auch mit den Handdiensten ist es so schlimm, daß ich mir gleich einen Knecht angenommen habe. In diesem Jahre 1819 habe ich durch Supplik erreicht, daß die Diele neu gedockt wird mit Zugabe von 1500 neuen Ziegeln. Suendorp und Wolberg haben beydes accordirt zu 55 rx“. Das waren die Folgen der Aufhebung der Hand- und Spanndienste in den Gemeinden. Diese Befreiung schrieb man in der hiesigen Gegend dem französischen Kaiser zu, da sie unter den Franzosen zu Ausführung kam, während Minister v. Stein in Preußen dieselbe Erleichterung schaffte.

Napoleon teilte das Land in Departements-Provinzen, diese in Arrondissements-Bezirke, diese zerfielen wieder in Kantone = Kreise, diese in Mairien oder Bürgermeistereien. Unsere Heimat gehörte zum Lippedepartement und zum Arrondissement Rees, zum Kanton Ringenberg und zur Mairie Altschermbeck. Um eine bessere Verbindung mit den neu eroberten Departements herzustellen, wurde von Napoleon die Verlängerung der Chaussee von Paris nach Wesel, von Wesel über Münster-Osnabrück bis Hamburg befohlen und mit dem Bau derselben schon im Herbste 1811 begonnen. „Sie ist ein großes Denkmal, welches uns Frankreich oder vielmehr sein Beherrscher hinterlassen hat und wenn gleich dieses Werk zur Erreichung seiner Zwecke nötig war, so ist doch zu vermuten, daß es auch einen politischen Grund hatte, indem durch diesen Bau Tausende von Händen mehrere Jahre Beschäftigung und einen guten Verdienst erhielten, und ihnen die vielen anderen Opfer vergessen machte, die gebracht werden mußten, auch kam eine bedeutende Geldsumme in den hiesigen Gegenden in Kurs, und das Ansehen gewann, als sollte durch ähnliche Mittel das gewichene sonstige Verdienst ersetzt werden, um dadurch der Untertanen Zuneigung zum Gouvernement zu erschleichen, welche Mittel allerdings im ersten Augenblick wirken konnten.“ (Chronik Hüning.)

Am 10. Januar 1812 trat die Verwaltung der Steuerauflagen auf Getränke und Tabak in Tätigkeit durch die Gouvernements. Am 1. Juli 1812 wurden die Douanen oder Zollinien gegen das Großherzogtum Berg, dessen Grenze die Lippe von Wesel bis Haltern bildete und gegen Holland gebildet. Eine solche Zollinie führte durch die Westrich und war durch Pfähle (sogen. Franzosenpfähle) bezeichnet. Durch diese Maßregel stiegen die Kolonialwaren ungeheuer. Ein Pfund Kaffee kostete 2 clevische Thaler oder 1 ½ Reichstaler. Man mußte verzichten. Als Ersatz röstete man Korn, Erbsen, Bohnen und Brotkrusten. Manches Mütterchen soll geseufzt haben „Ach, könnte ich ihn noch einmal riechen!“ Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Verhältnisse auch hier in Erle zum Schmuggeln verleiteten, wie es vom Bürgermeister Hüning von der Lippelinie erzählt wird. Gelegenheit macht Diebe. Daß einige viel Geld verdient hatten und reich geworden seien, wurde wohl erzählt.

Mein Urgroßvater war ein Hüne von Gestalt und Kraft. Von Beruf war er Landwirt, Schreiner und Drechsler. Spezialist war ein der Verfertigung und Ausbesserung von Spinnrädern, die er aus der ganzen Umgegend in Arbeit bekam. Wenn die Arbeit in der Heimat nicht genügend Brot abgab, dann nahm er sein Gerät auf seinen breiten Rücken und wanderte in der Nacht von Sonntag auf den Montag geraden Weges durch den Diersfort, Brünen nach Elten. Hier fand er in einer größeren Werkstatt immer lohnende Beschäftigung. Am Samstagnachmittag ging es zurück zur Familie, beladen mit allem, was das Rheinland für die Haushaltung billiger und besser bot. So half er sich durch die schwierige Zeit mit seiner großen Familie.

Der „Bangen Tages“ muß auch noch gedacht werden. Urplötzlich kam eine gewaltige Bewegung in die Männerwelt. Fluchtartig liefen alle Männer, ohne jede Vorbereitung oder Ueberlegung, so wie sie arbeiteten, oft ohne Rock und Kopfbedeckung davon mit dem Angstruf: „Do kommt se an!“ oder: „Do sünd se!“ Die Rhader liefen in die Oestrich, die Oestricher stürmten ins Dorf, die Dörfer und Westricher stürzten in die Sielhorst oder in den Dämmerwald. Erst im tiefsten Walde beruhigte man sich und wartete dort bis zum Abend, um sich dann heimlich seiner Familie wiederzugeben. Dieser „bange Tag“ soll durch das ganze Münsterland sich gezeigt haben. Man nennt den Oktober 1806. Wer erregte so plötzlich die Furcht? Die preußische Werbungsweise Friedrich Wilhelms I. mochte noch im Gedächtnis sein. Vielleicht zeigte sich eine in der Schlacht bei Jena-Auerstädt oder Saalfeld geschlagene Truppe des preußischen Heeres im Norden, und löste nun lawinenartig die Flucht aller Männer aus bis an den Rhein. Vor dem Militärdienst hatte der münsterländische Bauer Angst.

Wenn französische Truppenteile zur Einquartierung kamen, so eilte der Bauernbote (damals Thies“) durch die Gemeinde und bestellte an jeder Tür: „Morgen 3 Uhr Volk affhalen!“ Die einrückenden Truppen machten auf dem Kanonenplatz halt, und die Quartiere wurden dann verteilt. Jeder nahm sich seine Einquartierung und ging voran, trug sogar gern Gewehr und Tornister. Angekommen, trat der Hauswirt den Soldaten mit einer Flasche Branntwein entgegen, schwenkte die Flasche und rief: „Viavat Napoleon!“ Die Soldaten waren dann guter Dinge. Sie waren im ganzen recht mäßig im Genuß des Branntweins und wußten mit den Leuten recht gut fertig zu werden, trotz der verschiedenen Sprache. Sie schlossen sich in ihrem lebhaften Temperament den Leuten und besonders den Kindern an, verfertigten auch allerhand Gebrauchsgegenstände, Schmuck- und Spielsachen, so daß das Verhältnis zwischen Besatzung und Einwohner ein ganz gutes zu nennen war. Selten kam es zu Zwistigkeiten, und wenn es zu Auftritten kam, dann wurden diese von den Soldaten selbst unter sich geregelt, und zwar recht eindringlich und nachhaltig. Die Einwohner fürchteten die Einquartierung nicht sonderlich, da die Truppen sich vielfach selbst verpflegten oder die Verpflegung bezahlten. Im die Franzosen in guter Stimmung zu erhalten, durfte niemals die Suppe auf dem Tische fehlen.

Schlimmer und gefürchteter waren die Anforderungen von Spanndiensten. Es wurden die Pferde der Truppe möglichst geschont, dagegen mußte von den Gemeinden viele Wagen und Pferde gestellt werden, welche die Bagage auf den schlechten Wegen fortschleppen mußten. Der Eigentümer konnte nebenher traben, während die Soldaten vom Wagen fuhren und die Pferde bis zur vollen Erschöpfung abtrieben. Eine solche Behandlung machte die Bauern erfinderisch. Um ihre Tiere und sich zu schonen, bauten sie in dem Dickicht der Sielhorst oder des Dämmerwaldes Notställe und stellten dort alle Tiere, denen Gefahr drohte, solange unter, bis die Gefahr vorüber war. Man grub ein Loch und warf die Erde auf den Rand bis eine Tiefe von ungefähr 2 Meter vorhanden war, deckte das Ganze mit Stangen, Reisig und Moos und das Quartier für die Gefährdeten war da. Unzählige Male wurde es benutzt. Wenn Pferde und Männer angefordert wurden, waren beide von der Reise noch nicht wieder zurück. Auch Männer wurden als Wegweise und zur Arbeit gerne mitgenommen; waren Wagen versunken, dann mußten sie eben aus dem Moraste gehoben werden; diese Arbeit überließen die Soldaten gern den mitgenommenen Mannsleuten.

Kamen Truppenzüge, so mußte auch mein starker Urgroßvater verschwinden. Er hatte sein Versteck im Heuhaufen auf dem Hausboden vor dem Brettergiebel. Durch die Fugen der eichenen Bretter konnte er dann immerhin das Treiben auf seinem Hofe beobachten. Aus seinem Versteck sah er die Regimenter, die im März 1812 nach Rußland zogen. Sie kamen auf der breiten Landstraße vom Diesfort an Lagermann vorbei, zogen dann durch das östricher Feld auf Rhade und Lembeck zu. Er konnte ihre Schönheit und ihren Glanz nicht genug rühmen. „Ridder te Päadem grot van Schwöade, rot van Gold, o wat is de Ridder stolt.“ So sang noch Großvater, wenn ich auf seinem Knie ritt.

Es war im März, als die Durchzüge sich folgten. Ein jeder Soldat hatte eine Kirschblüte am Helm. Das Frühjahr 1812 muß also recht frühzeitig und dem Auszuge günstig gewesen sein. Manche Leute prophezeiten noch viel später in Erle: „Wenn im März der Kirschbaum blüht, dann gibt es Krieg“. – Die Rüstung der durchziehenden Reiterregimenter war so glänzend, daß man seine Augen beschatten mußte, wenn die Sonne sie beschien.

Die Verteuerung der Kolonialwaren, die Auflagen auf Getränke und Tabak (welche mit dem größten Abscheu aufgenommen wurden), die Dienstführung der französischen Steuerbeamten (Douanen), die selbst bei den Franzosen verhaßt waren, die unaufhörlichen Spann- und Handdienste ließen die Liebe zu dem neuen Herrscher erkalten. Furcht und Schrecken erfaßten die Bewohner, als die Franzosen Aushebungen für den Kriegsdienst vorschrieben. Unter der Regierung des Fürstbischofs von Münster war das nie geschehen. Die Salm-Salmsche Regierung hatte als Mitglied des Rheinbundes Napoleons Kriegszüge mit Geld unterstützt; nun verlangte man junge, kräftige Männer, die ihr Leben und Blut einsetzen sollen für – Napoleon. „Es erhob sich ein Wehklagen.“ (Hüning Chronik.)

Ueber die Aushebung junger Männer aus der Herrlichkeit und deren Schicksal im Feldzug nach Rußland gibt Dr. Hemsing durch seine Arbeit: Die Herrlichkeit Lembeck in der Napoleonischen Zeit – 3. Fortsetzung – im Heimatkalender von 1931 auf Seite 59 bestens Aufschluß.

Im Juli 1813 wurde eine neue Lieferung von 380 Pferden behufs Ergänzung des Pferdematerials der Armee auf das Lippe-Departement ausgeschrieben. Der Gerhard Böckenhoff in Erle mußte ein Pferd stellen, welches zu 480 Franks tariert, aber nicht gleich bezahlt wurde. Die Summe wurde nach Friedenschluß von Frankreich gefordert und gezahlt.

Die Transporte von Geschützen und Munitionswagen, welche zur großen Armee abgingen, und welche durch Vorspann weggeschafft werden mußten, waren bei allen eins der größten Übel. Nicht selten wurden täglich 300-500 Vorspannpferde nötig und aus den benachbarten Gemeinden herbeigeschafft. Die Vorspanngestellungen wurden bis Ende Oktober 1813 noch häufiger durch Wegschaffung der Verwundeten von Osnabrück nach Wesel, als auch durch die Flucht der Douanen (Steuerermpfanger) und der französischen Beamten, die in den neuen Departements angestellt gewesen waren. Am 4., 5. und 6. November war die Flucht allgemein. Allerlei französische Truppen eilten zum Rhein und biwakierten in Altschermbeck und verrammelten mit Holz und Wagen die Zugänge zum Orte. Bei Nacht und Nebel zogen sie nach Wesel ab. Die Trainkolonnen forderten viel Vorspann an, doch wurde es verweigert. Sie nahmen mit Gewalt vier Pferde fort. Eines entfernte sich heimlich von Wesel und kam heim, die anderen drei wurden über den Rhein mitgenommen. Alle Klagen bei dem Kommandanten General Bourke zu Wesel blieben erfolglos. Am 7. November 1813 marschierte ohne Aufenthalt ein Bataillon Infanterie durch nach Wesel. Diese waren die letzten französischen Truppen, die unsere Heimat sah.

Wesel war von den Franzosen vorsorglich befestigt worden während des Frühjahres und Sommers 1813. Von Februar bis Juni mußte die Mairie Altschermbeck täglich 15 dreispännige Wagen zum Fahren von Pallisaden zur Befestigung von Wesel stellen. In gleicher Weise mußten täglich 15 Arbeiter im Dämmerwald und in Drewenack Holz zu demselben Zwecke fällen. Von April bis Juli mußten außerdem täglich 15 Handwerker von hier in Wesel zu dem Festungsbau gestellt werden. Alle diese bekamen auch in Wesel einen mäßigen Tageslohn ausbezahlt. Neben diesen Lasten mußte die Mairie Altschermbeck noch 3187 Kilogramm Roggenmehl liefern. (Chronik Hüning.)

Vom 8. bis zum 14. November trat eine vollständige Ruhe ein. Der 14. November 1813 war der denkwürdigste Tag der hiesigen Gegend durch das Einrücken eines Detachement Kosaken von 70 Mann unter Führung des russischen Leutnants Falkenstein. Die Ankunft dieser hier nie gesehenen fremden Krieger erregte großes Aufsehen, aber noch mehr Freude. Diese hielten nur kurze Rast. Am Abend dieses Tages aber rückte eine stärkere Abteilung Kosaken vom Pulk des Obristen Bichaloni und eines Eskadron des Pommerschen Husaren-Regiments unter dem Befehl des Rittmeisters von Winz ein. Mit welcher Freude diese deutschen Vaterlandsverteidiger empfangen wurden, läßt sich nicht schreiben. Mit jedem Tage rückten hier neue Korps ein, welche Teils nach Holland, teils zu dem Belagerungskorps in Wesel gehörten. Am 24. Dezember 1813 rückten die Truppen unter Befehl des Generals Borsche näher nach Wesel, in der Absicht, die Festung zu überrumpeln. Ihre Absicht wurde aber vereitelt. Das Unternehmen erforderte eine Menge Vorspanne, es mußten Leitern, Stroh und Bindfaden und dergl. Material, welches man sich zum Besteigen der Wälle bedienen wollte, geliefert werden. Am 25. Dezember, auf Christfest, kehrte die ganze Division in ihre alten Quartiere zurück. Am 27. Dezember erfolgte der Abmarsch. Es wurden diese Truppen durch ein russisches Korps unter Befehl des Generals Prinzen Marinskin ersetzt. Diese fortwährenden Durchzüge und die stehenden Truppen verursachten eine Unruhe und Bewegung, die nicht zu beschreiben ist. Die Kosten der Verpflegung dieser Truppen betrugen im Amt Altschermbeck 19000 Thl. Preuß. Courant. Das Jahr 1814 fing mit den nämlichen Unruhen an, mit welchem das Jahr 1813 geschlossen hatte. Am 1. Januar  rückte das Kosaken-Pulk des Obristen Rossensty, am 3. Januar das Kosaken-Pulk des Obristen Satorius, am 4. Januar 2 Pulks Kosaken unter Befehl des Generals Illowisky mit mehreren russischen Batterien, am 18. Januar kam das Kosaken-Pulk des Obristen Cenisky, am 19. Januar traf eine Batterie und Infanterie vom Regiment Schmolensky  und 2 Pulks Kosaken ein, am 20. Januar kam ein Pulk Baskieren unter dem Prinzen Gayazin. Am 10. Februar 1814 kam ein Regiment Kavallerie, die Petersburger Volontairs und blieben bis zum 4. März. Alsdann wurde das Blockade-Korps durch preußische Truppen unter General von Putlitz ersetzt. (Chronik Hüning.)

„Die unbeschreibliche Freude“, die in der Bürgermeisterei Altschermbeck empfunden wurde, hatte wohl darin ihre Ursache, daß man statt der ersten Kosaken nun pommersche Husaren im Quartier hatte. Doch war die Freude von kurzer Dauer, Kosaken und nichts wie Kosaken kamen durch die engere Heimat. Es war ein rechter „Kosakenwinter“. 7 Monate lang. Sie hatten die Aufgabe, Wesel zu belagern oder zu erobern, doch scheinen die Franzosen keine sonderliche Angst vor den wilden Reitern gehabt zu haben; denn sie machten immerhin gefährliche Ausfälle aus Wesel und brachten den Russen empfindliche Verluste. Darum wurde schleunigst  der Landsturm organisiert und mit allerlei Waffen ausgerüstet. Dieser Landsturm, welcher zum Wachdienst als Vorhut vor Wesel stand, bildete täglich eine Truppe von 1500-200 Mann. Da sie fürs Vaterland im Feuer gegen den Feind gefochten hatten, bekamen sie die vaterländische Denkmünze von 1813/14.

Die Kosaken waren wilde Gesellen. Man empfing sie mit einer Flasche Branntwein und einem „Vivat Alexander!“ Sie ergriffen die Flasche und leerten sie in einem Zuge und verlangten mehr. Das Trinken aus der Flasche war ihnen viel zu langweilig; daher gossen sie den begehrten Stoff in Schüssel und hoben diese an den Mund bis sie ausgetrunken waren. Berauscht legten sie sich in den Schnee mit ihren Pelzen und verschliefen ihren Rausch. Das Sauerkraut holte man sich aus en Einmachfässern und verzehrte es ungekocht, ungewaschen mit der Brühe. Das ihnen zugeteilte Fleisch wurde kurze Zeit mit der Feuerzange über das Herdfeuer gehalten und verschwand dann durch den struppigen schwarzen Bart zwischen den weißen Zähnen. Die Knochen wurden gespalten und das Mark verzehrt. Sie nahmen an Lebensmittel alles, was sie bekommen konnten. Gebrauchten sie es selbst nicht, dann verfütterten sie es an ihre Pferde. Besonders mußte man das Brot vor ihnen verstecken. Im Hause meines Urgroßvaters hatte man auf dem Boden des Backspeichers trockenes Holz für die Werkstelle aufgestapelt. Da hinein versteckte man die Brote. Wer Hunger spürte, der stieg auf den Backofen, schon ein Brett auf die Seite und gelangte dann in den Raum; man brach ein Stück Brot ab und steckte es in die Tasche, um es bei der Arbeit heimlich zu essen.

Die Kosaken waren frech und dreist, wenn sie sahen, daß die Leute Angst vor ihnen hatten; traten aber kräftige, selbstbewußte Männer ihnen entgegen, so duckten sie sich und fügten sich den Anordnungen. Nach dem mißglückten Ueberrumpelungsversuch von Wesel, kamen am Abend des Christtages eine solche Menge Kosaken nach Erle, daß man sie nicht unterbringen konnte. Auf den Bauernhöfen hatte man 40 und mehr Reiter und Pferde. Das war ein gar schlimmer Abend nach einem glücklichen Tage ohne Einquartierung. Mein Urgroßvater wurde zwischen 10 und 11 Uhr noch von seiner Schwester geholt, um Ordnung zu schaffen. Die Schwester war den Kosaken nicht vollgültig erschienen. Sie belegten daher die Tenne nicht nur mit Pferden, sondern auch die große Bauernküche. Zur Unterlage für die Pferde hatte man ungedroschene Roggengarben vom Boden geworfen und damit die Tenne und Küche bedeckt. Zu diesem hatte man in der Küche ein wüstes Feuer entfacht, nicht nur unter dem Rauchfang, sondern auch unter dem Wiemen, so daß man befürchten mußte, daß das Haus jeden Augenblick in Flammen stehen würde. In diesem Durcheinander wuschen und trockneten die Kosaken ihre Kleider und Ausrüstung. Mein Urgroßvater nahm seinen guten Knotenstock und mußte nun als Hofbesitzer von einem Ausgange heimkehren. Er kam auf die Tenne und stellte zunächst die Knechte in derber Weise über die Verschwendung des Brotkornes zur Rede, und als diese die Schuld von sich abwiesen, ging er zu dem fremden Volk und seine bestimmte Forderung, die Roggengarben zu entfernen und das Feuer nur auf dem Herde zu halten, drang auch bei diesen durch; man fügte sich ihm, denn jeder glaubte, er sei der Hofbesitzer. So blieb er einige Tage dort, während der Bauer sich solange zurückziehen mußte. Auf dem Hofe Stegerhoff kam es auch zu einem Zwischenfall. Der Hofbesitzer hatte auch Streit mit den Kosaken bekommen. Diese ziehen ihre krummen Säbel und drängen ihn zurück bis auf den Herd. Der Bauer hält mit dem Halbaum in der Hand die scharfen Hiebe von sich ab. Der niedrige Rauchfang schützt seinen Kopf. Auf das Geschrei kommt noch ein Kosak durch die Haustür herein und läßt diese offen stehen. Der in die Enge getriebene Bauer bemerkt bald seinen Vorteil, er stößt einen Kerl mit der Faust vor die Brust, daß er rücklings in die Küche fällt, und durch die Lücke springt er auf die offene Tür ins Freie hinaus. Die scharfen Säbelhiebe trafen nicht ihn, sondern die eichene Tür und sind heute noch zu sehen.

Außerordentlich lästig waren die Kosaken den Mädchen und Frauen. Man mußte sich gegen die Kerle schützen, in dem man sich möglichst unappetitlich zeigte. Ungewaschen, ungekämmt, in lumpigen Kleidern, oft noch beschmiert mit Schweinefutter, so wagte man sich hinaus. Doch half es nicht immer. Auf einem Hofe war ein Kosak hinter einer Magd her. Das Mädchen flüchtete in die Kammer und warf den Riegel vor und floh durch das Fensterchen weiter. Der Kosak rannte nach bis an die Tür. Als er diese verschlossen fand, rannte er seine Lanze durch die Türfüllung. Hätte das Mädchen mit seinem Rücken die Tür geschlossen gehalten, so wäre es durchbohrt worden.

Es ist wohl allgemein bekannt, daß die Kosaken alles mitnahmen, was sie irgendwie gebrauchen konnten. Besonders scharf waren sie auf Pferdegeschirr; ja selbst Pferde vertauschten sie gerne gegen bessere. Als im Mai 1814 die letzten Kosaken abgezogen waren, kam noch ein verspäteter Sohn des Don nachgetrabt; hinter ihm her ein Bauer. Der Kosak hatte des Bauern Riemenzeug mitgenommen und sein altes dafür zurückgelassen. Auf dem Kirchplatz im Dorfe faßte man ihn. Er wurde vom Pferde gerissen und derart verprügelt, daß die dumpfen Schläge im ganzen Dorfe hörbar waren. Man nahm ihm die gestohlenen Sachen weg und sandte ihn seinen schwarzen, pelztragenden Kameraden nach.

Anfangs Mai 1814 zogen die Franzosen aus Wesel über den Rhein zurück, und die Belagerungsarmee war überflüssig geworden. Nach einem feierlichen Einzug in Wesel, an dem auch der Landsturm der ganzen Umgegend teilnahm, zogen auch die Russen über den Rhein. Bei ihrem Abmarsch nahmen die Kosaken mehrere Fuhren bis Arnheim mit, andere kamen überhaupt nicht zurück, weil die Pferde totgetrieben oder die Wagen zusammengebrochen waren. Die Anspanner retteten sich durch die Flucht bei Nacht und Nebel. Endlich, nach sieben langen Monaten, war der berüchtigte Kosakenwinter zu Ende.

Waren unsere Väter nicht groß und stark im Ertragen der Kriegsschicksale? Können wir uns ihnen gleich erachten? Ernst von Wildenbruch hat unsere Blicke dahin gewiesen:

„Wie die Väter einst gestritten,
Was sie trugen und erlitten,
Sagt euch der Geschichte Buch.
Laßt es nicht Papier nur bleiben;
In die Seele müßt ihrs schreiben,
Einen Wahr- und Lebensspruch!“

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Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth und Julius Lammersmann hier gezeigt. Das berechtigt aber nicht zu der Annahme, das dieser im Sinne des Urheberrechts als frei zu betrachten sei und daher von jedermann benutzt werden dürfe. Alle Rechte liegen weiterhin bei den Erben von Heinrich Lammersmann.