Die Steinzeit unserer Heimat
von Hauptlehrer Heinrich Lammersmann 1924
X
Muß das eine harte Zeit gewesen sein, die Steinzeit! Ei freilich, es war eine Zeit der Abhärtung und der Entbehrung, aber auch ein Zeit voll kühnen Mutes und der Freiheit. Die Steinzeit endete etwa 1000 vor Christi Geburt. Solange ist die Steinzeit vergangen und doch haben uns die Generationen dieser Zeit manches hinterlassen, woraus wir auf die damaligen Zustände in unserer Heimat schließen können. Die Römer, die vor und nach der Geburt Christi unser Sachsenland heimsuchten, schildern dasselbe als eine ungeheure Wildnis, bedeckt mit Urwald von dem einen Ende bis zum andern. Nur schaudernd dachte der Römer an die Wälder Germaniens mit ihren unüberwindlichen Hindernissen und Gefahren. In der Steinzeit, die etwa 1000 Jahre früher zu Ende ging, war es noch schlimmer, weil die Bewohner noch nicht seßhaft geworden waren, wie zur Zeit der Römer. Nun denke man sich einen Wald, auf überreich mit Waldhumus bedecktem Boden, in dem nie eine ordnende Hand eingriff! Mächtige uralte Eichen, Buchen, Ellern, Linden und andere deutsche Bäume hatten sich Luft und Licht erkämpft und erzwangen sich mit ihrem starken Geäst Raum in der Höhe und Breite. Darunter sprossen bleichsüchtige Sprößlinge derselben Art jäh in die Höhe, spähend wo ein Sonnenstrahl zu erhaschen sei oder sehnsüchtig wartend, ob nicht der übermächtige Riese endlich sterbend und niedersinkend die solange genossene Luft und das so notwendige Licht freigab.

Kam ein Sturm oder Wodans Blitzschlag und legte einen solchen Waldriesen krachend in das weiche Humusgrab des Waldes, dann ging der Kampf der jüngeren Generation von neuem an. „Das Alte stürzt – und neues Leben wächst aus den Ruinen.“ Doch kam nur das Starke durch, alles Schwache war dem Verkümmern, dem Tode geweiht und sank nieder und bedeckte den Waldboden oft meterhoch, den Würmern zum Fraß, den Waldhumus mehrend und so den siegreichen Brüdern im Vergehen noch Nahrung für den weiteren Kampf reichend. Kronen des Urwaldes standen ja immerhin noch unter der ordnenden Macht der Jahreszeiten als Aequinocktialstürme hindurchfuhren, das mächtige Geäst kämmten und das Morsche und Kranke krachend zu Boden schleuderten, um für den Nachwuchs Licht und Luft zu schaffen. Im Urwalde herrschte geheimnisvolles Dunkel. Aus dem Gewirr der gestürzten Äste und Bäume arbeitete sich das Unterholz zaghaft mit seinen mattgrünen Blättern empor, dünn, lang mit wenig Blattwerk. Der Efeu erkletterte die höchsten Bäume, andere Rankengewächse woben undurchdringliche Netze zwischen die grünen Stämme, als wollten sie das Heiligtum des deutschen Waldes gegen jeden Eindringling verschließen. Die Brombeeren wehrten ebenfalls, indem sie die Füße des Verwegenen immer mehr festhalten. Dorngestrüpp bildete eine undurchdringliche Mauer. Nur auf den mageren Sandhügeln wird der Urwald weniger dicht und die Bäume werden weniger stark gewesen sein.

Der Urwald der Steinzeit hielt in seinem humosen Waldboden ungemein viel Wasser fest. Die natürliche Entwässerung, Bäche und Flüsse waren durch hineingestürzte Bäume vielfach gehemmt, in den Tälern und Niederungen bildeten sich vielfach Wasserlachen und Seen, daher der noch einzeln auftretende Name für nasse sumpfige Grundstücke „Lacken“. Die Vorbedingungen für die Torfbildung waren gegeben. Die Feuchtigkeit hatte auch ein kälteres und rauheres Klima zur Folge. Der von der Sommersonne erwärmte Boden gibt im Herbste beim Umschlag der Witterung einen bedeutenden Teil seiner aufgespeicherten Wärme wieder an die Luft ab und wirkt so mildernd und läßt den Winter nur langsam die Herrschaft gewinnen. Im Frühling hilft der trockene Boden auch schneller zur Erwärmung beitragen. In der Steinzeit fehlte diese Vorbedingung vollständig, da der Boden der Sonnenbestrahlung nur sehr wenig ausgesetzt war und kaum erwärmt wurde. Es kam noch hinzu, daß die mit Feuchtigkeit übersättige leichte Luft zur Regen- und Nebelbildung geneigt war. Wir können also annehmen, daß zur Steinzeit sehr lange und naßkalte Winter herrschten, der Sommer aber nur kurz war und reichlich Regen brachte

Wild wie der Wald waren auch seine tierischen Bewohner. Außer den Tieren, die noch jetzt unsere Wälder beleben, gab es mache Arten, die jetzt in Deutschland nicht mehr anzutreffen sind. Wisent, Ur, Elch, Bär und Wolf. Der Wisent wurde bis 1,7 Meter hoch und 3,4 Meter lang. Er war sehr wild und unzähmbar. Der Ur oder das das Wildrind war von dunkler bis schwarzer Farbe, hatte lange, spitze, weit auslegende Hörner, wurde sehr groß und soll die Stammform des heutigen Rindes sein. Der Elch war 2,6 Meter bis 2,9 Meter lang und eine Schulterhöhe bis 1,9 Meter. Sein Gewicht betrug bis 500 Kilogramm. Das Geweih  allein hatte oft ein Gewicht von 20 Kilogramm. Er hielt sich in morastigen Wäldern auf und nährte sich von der Rinde, den Knospen und Blättern der Bäume. Bären, Wölfe und Wildschweine gab es in ganzen Rudeln. In den Kronen der Waldriesen jagten nicht nur Eichhörnchen, sondern auch Wildkatzen und verschiedene Arten von Mardern. Am Rande der Gewässer stolzierten Storch und Reiher, lauerten Fischotter und Biber. Wie unheimlich mußte der Urwald erklingen, wenn diese Waldriesen sich lockend riefen, kämpfend gegenüberstanden oder sterbend einem mächtigeren zum Opfer vielen. Wie schaurig war der lange dunkle Winter, wenn ganze Rudeln von Wölfen in lautem Geheul ihren Hunger kundgaben.

Der Beherrscher des Urwaldes war der Urmensch der Steinzeit. Wenngleich sich seine Kraft mit denen der tierischen Bewohner nicht messen konnte, so ersetzte doch der Verstand das, was ihn davon abging. Groß und stark war er. Wie hätte auch ein Schwächling das Klima ertragen können, er wäre von vornherein dem Untergang geweiht gewesen.

Schon das Leben im Urwalde und in den moorigen Gründen stellte die höchsten Forderungen an die Körperkraft. Gewandtheit im Klettern, Springen, Laufen, im Sehen, hören konnten ihm nur Erfolg verleihen in Abwehr oder beim Angriff. Die Faust war die erste Waffe. Gar bald wird er diese mit einem Steine beim Hiebe wuchtiger und schwerer gemacht haben. Die von den Bäumen gefegten Äste werden als Keule auch bald den Arm verlängert haben. Sehr schnell und erfolgreich infolge Übung und Kraft wird auch der Stein geschleudert worden sein. Wenn der Urmensch den Fährten des Wildes folgte, wird er stets Keule und Steine zur Abwehr oder zum Angriff bereitgehalten haben. Die Bedürfnisse des Lebens zwangen den Menschen zum Angriff auch auf größere, gefährlichere Tiere. Von ihrem Fleische ernährter er sich, von ihren Fellen macht er sich die notwendigen Körperhüllen und die Knochensplitter dienten ihm als Nadeln. Natürlich dienten ihm auch Wurzeln und Früchte des Waldes als Speise, wie Eicheln, Bucheln, Brombeeren, Waldbeeren usw. Zur langen Winterzeit fielen letztere aber aus. Familienweise zog der Mensch der Steinzeit durch den Wald, jagend und Nahrung suchend. Er hatte keine festen Wohnungen. In Höhlen und Schlupfwinkeln unterbrach er die Jägerei, bis ihn der Hunger zu neuem Jagen hinaustrieb. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß ein spitzer Stein leichter die Schädeldecke eines Tieres zertrümmere als  ein stumpfer und so kam er bald dahin, daß er Steine für seine Jagdzwecke besonders zurichtete. Er benutzte meistens Holz oder Knochen dazu, um von einem Steine nur kleine Stückchen abzusprengen, bis die gewünschte und wirkungsvolle Schneide zum Vorschein kam.

Diese waren die Steinbeile der ersten Zeit. Sie sind recht roh gearbeitet und lenken die Aufmerksamkeit unserer Zeit kaum auf sich; infolgedessen werden sie nur wenig aufgehoben und als solche anerkannt. Nach und nach bekamen die Menschen der Steinzeit eine große Geschicklichkeit in der Herstellung der Steinbeile, so daß die gegen Schluß dieser Periode gemachten Exemplare wirklich viel Kunst, Mühe und Arbeit zeigen. Man ist auch in der letzten Zeit wählerisch im Material und bevorzugt Kieselschiefer und Grauwacke wegen ihrer Härte. Am häufigsten ist wohl die Keilform. Wahrscheinlich wurde diese Form in einer Astgabel oder in einem Keulenkopf befestigt und wurde so eine wirksame Waffe. Die Hammerform ist seltener. Sie hat eine Bohrung von zwei Seiten. Diese Beilform wurde wie der Hammer an einem Stiel befestigt. Zum Bohren benutzte man wieder einen Stein, den man durch Abschlagen eine Spitze gab. Mit diesen Steinbeilen machte sich der Mensch auch seinen Kahn, den Einbaum, zurecht und befuhr damit die Flüsse und Seen. Zum Aushöhlen nahm er aber das Feuer zur Hilfe, indem immer ein Feuerchen das Innere eines Baumstammes verzehren mußte. Das Steinbeil entfernte kleinere Unebenheiten. Bogen und Pfeile gehörten auch bald zur Ausrüstung. Die biegsame Eibe gab das Holz zum Bogen her, das Rohr am Sumpfe lieferte die Schäfte der Pfeile. Die Pfeilspitzen waren von Feuerstein gewonnen, der überall zu finden war. Mit einem kräftigen Wurfe schleuderte man einen Feuerstein auf einen Findling. Der Feuerstein zersprang in viele, kleine, messerscharfe Splitter. Die für eine Pfeilspitze geeignetsten Splitter suchte man heraus und verbesserte sie durch Hämmern mit Holz oder Knochen, so daß sie diese richtige Pfeilspitzenform bekamen. Der Pfeilschaft wurde gespalten und die Feuersteinspitze hineingeschoben und mit Leder- oder Fellriemen festgebunden. Nun war das Geschoß fertig, die erste Fernwaffe war da. Die Geschicklichkeit in der Führung dieser Fernwaffe wird schnell zugenommen haben. Solche Pfeilspitzen sind in unserer Heimat viel gefunden worden. Von der Pfeilspitze zum Ger oder Speer war ja nur ein kleiner Schritt.

Der Boden gibt uns auch Wirtel aus der Steinzeit, die zum Spinnen benutzt wurden. Die Rankengewächse des Urwaldes, Hopfen usw., die sich quirlend in die Höhe arbeiteten und dem Eindringling große Stärke zeigten, mußten die Gedanken des Menschen dahin bringen, auch einen Versuch mit Fasern oder Bast der Pflanzen zu machen. Man steckte ein Bündel Fasern an einen Stock, zog mit der einen Hand die Fasern zur Dicke des Fadens heraus und die ließ die Fäden durch den Wirtel an einer Spindel hangen. Während nun die zupfende Hand gleichzeitig quirlte, kam auch die Spindel in Rotation. Der Wirtel ist ein Steinring aus Grauwacken ähnlichem Gestein. Der Durchmesser ist etwa 3 Zentimeter, das Loch ist höchstens 1 Zentimeter. Am äußeren Rand ist er oft noch mit einer Furche verziert. Er wird wohl aus der letzten Periode der Steinzeit kommen und ist vielleicht auch noch in der folgenden Broncezeit in Gebrauch geblieben. Nun wird der Leser wohl gemerkt haben, warum diese graue Vorzeit Steinzeit genannt wird.

Ich höre die Frage: „War denn unserer Herrlichkeit in der Steinzeit schon bewohnt?“ „Ei, natürlich!“ das beweisen doch die Funde, die in der jüngsten Zeit gemacht worden sind. Wieviele mögen in den Jahrtausenden schon unbeachtet geblieben sein. Wieviele solche Dokumente mögen in und auf der Erde noch der Hebung harren? In Erle fand man Steinbeile in der Sielhorst, im Laor, im Aeggel (=Eiche), in Rhade bei Hülsten, in Wulfen hat man neuerdings auch ein Exemplar gefunden. In Schermbeck fand Temmler (Landwirt) auch ein solches in der Nähe der Sielhorst (=besiedelter Wald). Die vorgemerkten Steinbeile hatten alle die Keilform. In Erle wurde außerdem noch ein halbes Steinbeil in Hammerform gefunden. Es war bei der Bohrung gebrochen. Pfeilspitzen aus Feuerstein fanden Dr. Conrads bei der Michaeliskapelle in Lembeck und Förster Homeyer im Bakerlerfeld. Die Pfeilspitze aus dem Bakerlerfeld ist besonders schön, mit Widerhaken, ein prächtiges Stück. Spinnwirtel wurden in Erle im Westen und Osten der Gemeinde gefunden. Für Erle steht bis jetzt fest, daß der westliche Teil der Gemeinde, besonders die Sielhorst, die meisten Steinbeile zutage förderte, also auch das beste Jagdgebiet der Jäger der Steinzeit war. Trotzdem ist auch der sandige Höhenrücken der Östrich nicht ohne Menschen der Steinzeit gewesen, man fand dort ein Steinbeil und ein Wirtel.

Diese schönen Fundstücke, die vom Roste angefressen werden können, geben uns also Kunde aus der grauen Vorzeit. Sie sind von ihren Besitzern einst geliebt und hoch geschätzt worden, man sieht es an der sorgfältigen Bearbeitung, sie sind in einem unglücklichen Kampfe vielleicht mit ihren Besitzern zu Boden gesunken und geben uns nun Nachricht von dem weiten, weiten Einst.
X
Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth und Julius Lammersmann hier gezeigt. Das berechtigt aber nicht zu der Annahme, das dieser im Sinne des Urheberrechts als frei zu betrachten sei und daher von jedermann benutzt werden dürfe. Alle Rechte liegen weiterhin bei den Erben von Heinrich Lammersmann.