Die Landschaft des Westmünsterlandes sah in früheren Zeiten noch ganz anders aus als heute. Anstatt wie jetzt nur vereinzelt, überwiegten damals Heide und Moore in unserer Gegend. Die Besiedlung war viel dünner und das Verkehrsnetz bestand neben einigen wenigen "Königswegen" nur aus alten Pfaden, die zwischen den vereinzelt liegenden Dörfern und den noch einsamer liegenden Weilern und Höfen verliefen. In unserem Landstrich wurden in uralter Zeit viele Gräberfelder und Grabhügel angelegt, die noch zu Zeiten unserer Urgroßeltern recht deutlich zu erkennen gewesen sind. Diese unwirtliche Landschaft, gepaart mit Wetterphänomenen und der damaligen Unkenntnis über naturwissenschaftliche Dinge waren die Geburtsstätten vieler Sagen und Märchen. Diese waren bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts noch weit und breit bekannt und wurden oftmals von dorfbekannten Geschichtenerzählern an die nächste Generationen weitergegeben. Leider hat sich mit der aufkommenden Moderne diese Tradition sehr schnell verloren und wir verdanken es heute einigen wenigen Menschen, die es damals für nötig hielten, diese uralten Geschichten aufzuschreiben und so für uns Nachfahren zu sichern.

In Erle war der Bauer Hermann Kuhlmann aus der Westrich als ein solcher Geschichtenerzähler bekannt. Ihm und dem Autor Aloys Küper, der diese Sagen gesammelt, aufgeschrieben und 1962 in seinem Buch "Sagen, Märchen und Schwenke auf dem Bram" veröffentlicht hat.

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Der erste Münsterländer [5]
aufgeschrieben von Aloys Küper

Auf einer seiner vielen Erdenwanderungen nahm der liebe Gott Petrus mit, um ihm auch die stille und weite Ebene des Münsterlandes zu zeigen. Nachdem sie einen langen Weg zurückgelegt hatten, ohne einen Menschen zu sehen, bat Sankt Petrus den Herrn inständig, er möge doch diesem ungenutzten, weiten Tiefland Menschen geben, die es wohnlich und fruchtbringend gestalteten.

Da wollte es der Zufall, dass gerade ein Eichenknubben am Wege ragte, standfest, breit und wetterhart. Unser Herrgott rührte ihn an, und huldvoll sprach er in seiner weltbekannten Güte: „Werde ein Mensch!" Nun zeigten sich Spuren lebendigen Geistes in dem knorrigen Stamm, der augenblicklich menschliche Gestalt annahm. Dieser Mann konnte seine Herkunft nicht verleugnen. Er hatte noch keinen Schritt getan, da reckte er die Arme, und einfach, plump und freiheraus fragte er: „Wer stößt mich da?"
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Die Sage von der weißen Frau in der Erler Westrich
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aufgeschrieben von Rektor Kellner, Holsterhausen

Zur Zeit Karls des Großen und schon vorher standen in der Westrich fränkische Soldaten als Grenzwächter zwischen dem Sachsen- und Frankenland. Kriegsruf und Waffenlärm hallten dazumal durch die grünen Gründe und undurchdringlichen Wallhecken; es ging um Landsherrschaft und Gottesglaube, um Frankenkönig und Sachsenherzog, um Wodan und Christus, um Frena, die weiße Himmelsfrau, und Maria, die milde Christenmutter. Wohl liegen heute noch hinter hohen Wällen und dichtem Laubwerk versteckt die Gehöfte, und die Felder und Wiesen sind noch umschlossen von Busch und Gestrüpp; aber es ist still geworden, ruhig und friedlich. Der Kampf ist beendet! Das laute Weltgetriebe brandet auf den Landstraßen, von ferne nur hörbar, hin und her vorbei.

So bleibt die Westrich eine abgelegene Gegend, ein weltentrücktes Land. Wenn dazu noch die weißen Nebel geisterhaft durch die stille Niederung ziehen, wird es dort unheimlich wie im Totenland. Dann ist es, als hätten sich die Gräber des Frankenfriedhofs aufgetan, als wandelten geheimnisvolle Geistergestalten über Wege und Felder, durch Busch und Hecken, gegeneinander, durcheinander, auseinander. Die Kinder trauen sich sodann nicht vor die Tür; sie hörten ja auch von den Alten die Sage von der weißen Frau. Die weiße Frau, so berichtet die Märe, ging früher um auf dem Weg zwischen dem Hexenkolk und dem Dorf. Leute, die spät in der Nacht heimkehrten in die Westrich, wollen sie oft gesehen haben und erzählen, sie sei groß und schlank gewesen, angetan mit einem langen, weißen Gewand. Und - seltsam - wenn die weiße Gestalt irgendwo aufgetaucht war, dann ist dort in der Nähe kurz darauf immer ein Unglück geschehen: nach einigen Tagen entstand ein Hofbrand oder es brach bald eine Seuche aus in den Ställen zwischen dem Vieh, oder auch es starb dort nach kurzer Zeit jemand in der Nachbarschaft. So ist es lange Zeit oft geschehen bis auf einen Tag. Da hat einer, der des Weges kam und die weiße Frau im Nachtdunkel gewahrte, den Hund auf sie gehetzt - und hat gehört, wie sie rief: "O weh! O weh! Min Hennekleed is entwee!" Seit dieser Stunde ist die weiße Frau in der Erler Westrich nicht mehr gesehen worden.

Marienthaler Strasse und Hexenkolk
Im Vordergrund die heutige Marienthaler Straße, hinten der heutige Hof Breil, ganz rechts ist
der Hexenkolk zu erkennen, Bildmitte: Hier mündet die Straße "Hagen" in die Marienthaler Straße
(Quelle: "Querbeet", Heimatverein Erle e.V.)

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(Quelle: Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, Jahrgang 1927)
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Der Teufelshase in der Östrich/Die Sage vom schwarzen Hasen [2]
aufgeschrieben von Rektor Kellner, Holsterhausen


In der Gegend, wo der Teufelstein in der Bauernschaft Östrich liegt, ist es schon seit alters her nicht mit rechten Dingen zugegangen. Dort läuft nicht nur das weiße Pferd ohne Kopf, dort läuft auch der Teufelshase. Schwarz soll er sein und wer darauf schießt, der muss, ehe drei Tage um sind, sterben. - So ist es einem leidenschaftlichen Jäger, einem Wilddieb, vor Jahren geschehen. Er hörte nicht auf die Warnung seiner Mutter und jagte am hl. Ostermorgen während des Hochamtes hier in der Gegend. Der schwarze Hase sprang auf, da knallte auch schon der Schuss. Aber der Hase blieb nicht liegen; im Davonrennen wuchs er schnellstens größer und immer größer, viel größer als jedes nur denkbare Tier, und verflog im Handumdrehen als riesenhafter Schatten in der Luft. - Als die Mutter aus der Kirche kam, lag ihr Sohn bleich und starr und mit stierenden Augen und stumm in seinem Bett. Sie wusste sogleich, was vorgefallen war.  Nach drei Tagen war der Jäger tot.
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Quaodlecht up de Kiepe [5]
erzählt von Hermann Kuhlmann, aufgeschrieben von Aloys Küper

Für Irrlicht hatten die Bewohner von Borken, Heiden und Erle das holländische Wort Quaodlecht, das ein Licht von böser Vorbedeutung bezeichnet; denn das holländische quadt heißt böse. Die östlichen Niederlande gaben diesem Sagenkreis einen Sinn, den er auch bei uns hatte. Im Kernmünsterland war der mundartliche Ausdruck für Irrlicht Dwaollecht. Er kommt von sik verdwaolen = sich verirren.

Zu den besten Spukerzählern des Westmünsterlandes gehörte der Bauer Hermann Kuhlmann aus Erle. Vor dem letzten Weltkrieg war es ein Genuss, den straff und urwüchsig geformten Geschichten des achtzigjährigen, breitschultrigen Mannes mit dem roten, freundlichen Gesicht zu lauschen. Zeit seines Lebens kam er im ganzen Kirchspiel herum; denn er war nebenberuflich auch Zimmermann und Hausschlächter. Bei seinem guten Gedächtnis wurde er Träger und Mittler vieler Erzählungen, die er mit „Klack un Smack" vorbrachte.

Er erzählte, wie ein Quaodlecht, das schwer wegzukriegen ist, wieder vertrieben werden kann. Einmal in jeder Woche trug ein Mann aus Heiden in seiner Kiepe Butter und Eier nach Dorsten auf den Markt. Wenn er dann heimkehrte, hatte er Porzellan und anderen Kram aufgeladen. Den verkaufte er an den übrigen Tagen rings in den Bauerschaften. Auf dem abendlichen Heimweg ging er oft quer durch die Erler Heide. Sie war damals so unwegsam und groß, dass manch einer dort schon bei Tag in die Irre gegangen war. Der Kiepenkerl war aber in der Wildnis seines Weges sicher. Einmal sah er in dem Schlicken- und Wellbrok bei Bramert und Wallenkamp in Erle in der Ferne ein Licht. Es hüpfte über seinen Weg. Dann flog es auf ihn zu und setzte sich auf seine Kiepe. Je länger es dort aufhockte, desto schwerer wurde seine Last. Der kalte Angstschweiß rann dem Mann von der Stirn. Eine Flucht in toller Hast war ihm nicht möglich. Seine Glieder schienen gelähmt. Ein Hilfeschrei in der Einsamkeit der schweigenden Heide konnte ihn nicht von dem im Nacken brennenden Verfolger befreien. Doch schritt er langsam und tapfer weiter. In der Not griff er zum Rosenkranz, flehend sprach er die Gebete, blieb geduldig und nach einer Weile sagte er, lebhaft aufhorchend: „Bist du von Gott, dann bleib sitzen, bist du vom Teufel, dann geh weg!" Flugs war das Quaodlecht davon.
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Der Teufelstein bei Erle [3]
aufgeschrieben von Joseph Kellner, Deuten

Zwischen dem Dorf Erle und der Bauernschaft Östrich befindet sich weitab in einem dunkeln Eichenbusch ein großer, platter, grauer Stein. Bei Tage liegt er ruhig da im Schatten der Bäume, ganz still, als träume er von längst vergangenen Zeiten. Aber um Mitternacht, sobald die Turmuhr des Dorfes 12 geschlagen hat und der Hahn auf dem nächsten Bauernhof in der Östrich zum ersten Mal kräht, hebt sich der Stein von selbst in die Höhe. Ein dunkles Erdloch öffnet sich, darin der Teufel sitzt und sein Geld zählt. Nur einen Augenblick kann man ihn sehen; der schwere Stein schlägt um und senkt sich wieder herab und deckt die Grube zum Teufel zu. Keinen Himmelsonnenstrahl lässt der in das Reich der Finsternis gelangen, und der Böse kann nicht zum Lichte emporsteigen, die Menschen zu schrecken und auf falsche Wege zu bringen. Wer aber in der Gegend des Teufelstein sich dennoch verirrt, dem erscheint ein weißes Pferd ohne Kopf, und - seltsam - er findet sich bald wieder zurecht.
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Der Teufelstein bei Erle [5]
aufgeschrieben von Aloys Küper

Der Teufel soll laut Sagen öfters auf Erden wandeln und hin und wieder sogar erkannt werden. Zu den wenigen, die ihn gesehen haben, gehörte Janbernt Suntorp, der im hohen Alter starb und schon fast neunzig Jahre auf dem Friedhof in Erle ruht.

Als Janbernt vom alten Heidehof in Erle noch ein Junge war, musste er einmal in der Nacht vom Dorf den Herrn Pastor zur kranken Mutter holen. Den Heimweg vom Dorf ging er allein. Die Turmuhr schlug gerade zwölf, als er in dem kleinen Eichenkamp der Bauerschaft Ostrich war, der zu dem alten Bakenhof gehörte. Die alten Eichen, die den Kamp umsäumten, übten eine stille Macht über Menschen aus. Hier und da schössen Jungbäume aus dem langen Grase auf. In ihrer Mitte lag fest und selbstwillig ein alter Steinriese mit einer flachen Höhlung in der Mitte, und an der einen Schmalseite hatte er eine Senkung, von der das Blut der Opfertiere geflossen sein soll. Die Leute nennen ihn noch heute Teufelsstein.

Ängstliche Naturen getrauten sich nachts nicht dahin. Janbernt sah, wie der Felsblock sich hob, in der Luft schwebte und wie darunter ein Loch sich öffnete, in dem der Teufel mit Pferdefuß, Schwanz und Hörnern am Rande eines aufflackernden Feuers saß und Geld zählte. Schnell wie der Wind machte sich Janbernt davon und befreit atmete er auf, als das Hecktor zwischen ihm und dem Teufel zuschlug; denn bis zum ersten Hahnenschrei auf dem nächsten Bauernhof übte der Teufel seine Macht aus. Dann schlug der schwebende Stein um, senkte sich wieder herab und deckte die Grube mit dem Teufel zu. Den Geldschatz, der in dem aufsteigenden Feuer gereinigt und verjüngt wurde, hatte jemand dem Teufel zur Bewachung anvertraut. Nur gegen Leistung eines bestimmten Pfandes war der Satan bereit, den funkelnden Hort herauszugeben. Wer in der Gegend des Teufelssteins vom Wege abkam, dem trat ein weißes Pferd ohne Kopf entgegen, und merkwürdigerweise wusste er dann bald wieder Bescheid.
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Die Sage vom goldenen Kalb im Honnemannsberg [4]
Von Joseph Kellner, Holsterhausen

Beim Dorfe Erle liegt der Honnemannsberg. Darin soll vor vielen hundert Jahren ein goldenes Kalb vergraben sein. Gesehen hat das Kalb von den lebenden Menschen noch keiner, man weiß auch nicht genau, wo es zu finden ist. Aber dass es da sein muss und dass es aufrecht in der Erde steht, das weiß man, denn die Alten haben es immer erzählt. Längst hätte man auch schon danach gesucht, aber es heißt, wer mit dem Spaten dem Kalbe sich nähert, dem ermüden unerklärlich Arme und Beine, dem erblinden die Augen und kehrt sich das Eingeweide um, dem vergeht der Verstand und schließlich das Leben, un das goldene Kalb hat sich im doch nicht gezeigt. So soll allen viel Unglück geschehen sein, die den Honnemannsberg des Schatzes wegen abtragen wollen.

Einmal hat, wie die Sage berichtet, auch ein junger Hoferbe, der dort in der Nachbarschaft wohnte, den Honnemannsberg angebrochen, um Wiesensümpfe mit dem Sand zu überwerfen, seine Ackerfläche durch neue Rodung zu vergrößern und - um vielleicht, man konnte es ja nicht wissen, das goldene Kalb zu finden. Als er nun mit seinen Knechten anfing, den Holzbestand abzuhauen, gewahrten sie ein Krähennest, das oben im höchsten Baume saß. Anderen Tags nahm der Bauer die Flinte mit und schoss unter das Nest und siehe - eine große Krähe stieß schreiend daraus hoch empor, viel dann plötzlich in der Luft wirbelnd und sich überschlagend herunter und schlug tot auf den Grund. Und wo der schwarze Vogel aufgeschlagen war, drang auf einmal ein furchtbares Kalbgebrüll laut wie Donnergetöse aus dem Innern des Berges hervor, und der Erdboden brach auf mit Grummeln und Grommeln, als wollte ein Ungeheuer hindurch und heraus aus dem Dunkel an das Tageslicht sich wühlen. Herr und Knecht flüchteten in heillosem Schrecken fort nach Hause und erzählten bleichen Gesichts, was ihnen geschehen war. Und als sie geendet hatten, waren sie tot. Sie hatten nicht daran gedacht, dass das goldene Kalb lebendig wird, aus der Erde kommt und Tod und Verderben bringt, wenn Blut über ihm auf dem Honnemannsberg vergossen wird.
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Der Mann aus Erle in Wolfsgestalt [5]
erzählt von Hermann Kuhlmann, aufgeschrieben von Aloys Küper

An alte heidnische Auffassungen knüpfte die abergläubische Vorstellung an, dass mit Hilfe böser Geister Menschen sich in Tiere verwandeln könnten. Zu der Zeit, da dieser Aberglaube ausgestorben war, sprach sich noch in Erle die Geschichte von einem Bauern herum, der sich in einen Warwulf, d. h. Werwolf, umgestalten konnte. Sie diente der spaßhaften Unterhaltung. Der achtzigjährige Hermann Kuhlmann aus der Westrick in Erle erzählte bedächtig, aber doch dramatisch bewegt von dem Bauern in Erle, der „warwulfen", d. h. die Gestalt eines Werwolfes annehmen konnte. Seine Zuhörer hatten dann Gelegenheit, das Gruseln zu lernen.

Einmal spannte ein Bauer das Pferd an den Wagen, um Frau und Kind zu Verwandten zu fahren. Er lenkte das Pferd, während die Frau das Kind auf dem Schoß trug. Sorgfältig hatte sie das Kind in eine weiße und in eine rote Decke eingehüllt. Sie kamen auf einem tief ausgefahrenen Wege in einen Wald. Hier ging es über Stock und Stein. Der Mann hielt an, flüsterte seiner Begleiterin etwas zu, stieg vom Wagen und ging in den Wald. Urplötzlich sprang aus dem Erlenbusch ein Wolf heran. Vor Schrecken ergriff die Frau mit der einen Hand die Leine, die ihr Mann um den Rungenschemel gebunden hatte, mit der anderen hielt sie das Kind. Der Wolf wollte nicht weichen und rollte die Augen. In dem fahlen Schein der blakenden Sturmlaterne, die unter dem Wagen hing, blies heiß der Atem des Tieres aus dem aufgesperrten Maul. Mit seinen Zähnen riss der Wolf ein Stück aus der roten Decke, in die das Kind gehüllt war. Da griff das Kind voller Angst in seinem Schutzbedürfnis nach dem Mantel der Mutter. In die Höhe springend streckte der Wolf verlangend die Pfoten nach dem Kinde aus. Als Mutter und Kind unverwandt in der Not nach dem Mann ausschauten, schnellte der Wolf in Sprüngen zurück und verschwand in der Dickung. Bald keuchte der Mann heran. Zwischen den Zähnen hatte er kleine Flocken roter Wolle. Daran erkannte die Frau, dass ihr Mann sich in einen Werwolf verwandeln konnte.
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Wilder Ritt, weiter Flug [5]
erzählt von Hermann Kuhlmann, aufgeschrieben von Aloys Küper

Allerlei Geschichten von Hexen wußte Bauer Hermann Kuhlmann aus Erle zu erzählen. Danach hatten die Hexen eine besondere Vorliebe für das Reiten. Sie ritten aber nicht auf Besenstielen, wie es uns aus dem Harz erzählt wird, sondern auf Pferden. Ein Bauer in Erle brachte den Sommer über die Pferde abends auf die Weide, um mit dem Heufutter zu sparen. Er sollte keine rechte Freude daran haben. Jeden Morgen waren sie wie in Schweiß gebadet. Dabei hatten sie nichts im Leibe und waren tagsüber so müde, dass sie nicht recht arbeiten konnten. Das verdross den Bauern. Er wollte wissen, woher das kam. Eines Abends versteckte er sich in der Wallhecke, um aufzupassen, wer mit den Pferden etwas anstelle.

Um ihn unterbrach kein Laut die Stille. Erst gegen Mitternacht nahte sich ein Sausen durch die Luft. Eine alte Frau flog im Siebrand vorbei und ließ sich am Wiesenrand nieder. Sie warf das runde Ding in die Wallhecke, schwang sich auf ein Pferd, ritt wie toll, trieb es in Schweiß, sprang dann herunter, wandte sich schnell zum anderen Pferd, stieg auf, stob davon und jagte die Wiese auf und ab. Eine Stunde lang sah sich das der Bauer an, bis auch das zweite Pferd in Schweiß getrieben war, dann nahm er das Sieb an sich und wandte sich zum Heimweg. Da kam die alte Frau ihm entgegen und rief: „O weih, o weih, wu komm ick üöwer die wiede Sei!" Zuerst kümmerte der Bauer sich nicht darum. Aber er ließ sich darauf ein, als sie versprach, es nicht wieder zu tun. Er gab ihr den Siebrand zurück. Die Hexe schwang sich hinein und flog davon.
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Die Butterhexe in Erle [5]
erzählt von Hermann Kuhlmann, aufgeschrieben von Aloys Küper

Noch vor siebzig Jahren war die Hauptaufgabe der Bäuerin die Butterbereitung. Verkauf oder Tausch der Butter war die laufende Einnahmequelle. Um 1800 erzielte die Bauersfrau für den Erlös des Pfundes Butter entweder ein Viertel Pfund Zucker oder zwei Pfund Weizenmehl oder vier Pfund Salz. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts seihte die Bäuerin die überflüssige Milch in breite, flache irdene Schüsseln, in denen sich der Schmand, d. h. der Rahm, absonderte. Die Rahmmenge von drei oder vier Tagen kam in die Stoßkirne oder das mit Eisenbändern beschlagene Stehbutterfaß. Dann begann die harte Arbeit der Bäuerin. Sie hatte den durch eine kleine Öffnung des Butterfaßdeckels ragenden Stiel nach oben zu ziehen und herunterzustoßen. Am unteren Ende des Stiels war ein durchlöchertes kreisrundes Brett befestigt. Durch fortgesetzten Schlag und Stoß wurde das Milchfett zu Butterklümpchen zusammengeballt. Das unablässige Auf- und Abstoßen war anstrengend, besonders, wenn der Rahm steif wurde. Je nach Witterung und Beschaffenheit des Rahmes nahm diese Arbeit bis zu einer Stunde in Anspruch, bis sich dickere Butterklumpen bildeten. Dann erst schöpfte die Bauersfrau die Butterteilchen heraus, knetete mit einem Holzlöffel die letzte Buttermilch heraus und formte die Butter zu einer länglichen, festen Welle.

Nach dem Geschichtenerzähler Hermann Kuhlmann wollen die Alten aus Erle vernommen haben, dass dort früher eine Frau gern in anderer Leute Butterkarnen sah, um daraus Butter an sich zu bringen. Hermann Kuhlmann erzählte: Einmal gingen zwei Frauen von Erle nach Wesel zum Markt. Sie kamen an einem Bauernhaus vorbei und sahen, wie die Bäuerin kernte, d. h. Butter bereitete. Das gab der einen Frau Anlaß zu der Bemerkung: „Soll ich der Bauersfrau die Butter wegnehmen?" Da erwiderte die andere: "Wenn du das tust, kannst du mehr als ich; du kannst das nicht." Die Begleiterin war aber eine Hexe und sagte: "Ich will es dir zeigen." Sie lief zum nächsten Bach und schlug mit einer Peitsche lange in das Wasser, das auf einmal die schönste Butter ausschied. Sie nahm die Butter heraus, knetete sie mit den Händen zu einer langen Welle und verkaufte sie in Wesel auf dem Markt. Auf dem Rückweg streiften die beiden Frauen das Bauernhaus entlang, wo die Frau immer noch kernte und noch keine Butter bekommen hatte. Die Bäuerin ahnte nicht, wer das verursacht hatte. Die beiden Frauen setzten ihren Weg nach Erle fort. Unterwegs gab die eine Frau ihrer Begleiterin eine Handvoll Kirschen. Als diese später die Kirschen essen wollte und in die Tasche griff, packte sie mit den Fingern - Pädden.



HEXE ALS KATZE
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 aufgeschrieben von Aloys Küper

Von einem Bauernhof zwischen Erle und Marienthai erzählen Leute in Erle, dass er ehedem von einer Hexe heimgesucht wurde, die sich in eine Katze verwandelt hatte. Früher stand in der Küche des Bauernhauses das Wasböken, ein grosser Bottich, der seinen Namen von der Buchenasche hatte, mit der die Lauge gebildet wurde. Vom Zapfloch des Riesenbottichs floss die Lauge durch ein Loch in der Außenwand der Küche nach draussen. Jeden Tag schlich eine Katze durch dieses Loch, wenn die Bauernfamilie an der massiven Tischplatte saß, in der Vertiefungen ausgehöhlt waren, die als Teller dienten. Die Katze strich herum und spähte jeden Tag aus, was die Hausbewohner auf dem Tisch hatten, wenn sie ihr Essen einnahmen. Das machte den Bauern verdrießlich. Schließlich warf er mit dem Brotmesser nach der Katze. Da auf einmal begann das Tier zu sprechen und sagte, er solle nur kommen, wenn er was wolle – und dabei hat es das Brotmesser quer ins Maul genommen.
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Der schwarze Hund in Erle [5]
erzählt von Hermann Kuhlmann, aufgeschrieben von Aloys Küper

Auch der Drak soll nach einigen Sagen wie die Hexen im Bunde mit dem Teufel wirken. So kam der Teufel zu den Leuten, die sich mit ihm eingelassen hatten, in Gestalt eines Hundes, der nach einer längeren Rast im Hause als glühender Wiesbaum auf dem Hahnenbalken sich durch das Eulenloch hervorschob und ins Land hinausfuhr.

In der Erler Gegend hat sich, wie Bauer Hermann Kuhlmann erzählte, vor vielen Jahren ein schwarzer Hund breitgemacht, von dem man heute noch nicht recht weiß, was er gewesen ist und zu bedeuten hatte. Eines Abends sahen Jungen und Mädchen, die an einer Hochzeitsfeier teilgenommen hatten, auf ihrem Heimweg eine brennende Lampe auf dem Pfosten eines Schlagbaumes stehen. Sie nahmen die Lampe mit nach Haus und stellten sie auf den Tisch der besten Stube. Sie sagten das ihrer Mutter. Die zweifelte daran, dass es eine richtige Lampe sei. Nun wollten sie genau nachsehen. Sie gingen in die Stube - und das Licht war aus. Sie sahen aber etwas unter dem Tisch liegen, gross und schwarz, es war ein Hund. Das Tier fiel ihnen lästig und bereitete Ärger. Sie riefen den Hund. Er wollte nicht weichen, was sie auch mit ihm anstellten. Sie erschraken, als er zu sprechen begann. Sie mussten sich von ihm tadeln lassen. Er sagte, sie hätten ihn dort lassen sollen, wo er war. Unbewegt behauptete er seinen Platz. Sie machten sich darüber Sorgen, was für Schaden er ihnen antun könnte. Schließlich brachen sie das Haus ab. Wie gross war ihr Entsetzen, als der Hund liegen blieb. Erst als sie ihm einen neuen Stall gebaut hatten, tat das Tier ein paar Schritte, um dort ein neues Lager zu beziehen. Sie konnten ihn nicht mehr los werden.
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Der Bodenschelm in Erle [5]
erzählt von Hermann Kuhlmann, aufgeschrieben von Aloys Küper

Die Ansicht, dass Bodenschelme, die Grenzsteine versetzt haben, nach ihrem Sterben das Unrecht sühnen und wiedergeben müssen, war bei uns allerorten verbreitet. In Erle bei Dorsten, erzählte der alte Bauer Hermann Kuhlmann aus der Westrick, stand einmal ein Soldat in stiller Nacht auf seinem Posten. Plötzlich hörte er flehentliches, aber nicht lautes Rufen: „Wo soll ich ihn lassen, wo soll ich ihn lassen?" Laut rief der Soldat: „Du dummer Teufel, wo du ihn bekommen hast." Da sauste der Grenzstein seinen Kopf entlang und hätte ihn nahezu getroffen. Er hörte, wie das Gespenst erleichtert seufzte: „Darauf habe ich schon hundert Jahre gewartet. Jetzt bin ich endlich erlöst."
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Quellen:
[1] Joseph Kellner: Die Sage von der weißen Frau in der Westrich, Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, 1933, S. 56ff
[2] Joseph Kellner: Der Teufelshase in der Oestrich, Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, 1931, S. 73
[3] Joesph Kellner: Der Teufelstein bei Erle, Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, 1930, S. 92
[4] Joesph Kellner: Die Sage vom goldenen Kalb im Honnemannsberg, Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck, 1933, S. 52ff
[5] Aloys Küper: Sagen, Märchen, Schwänke auf dem Bram, Selbstverlag, Essen, 1962